Renate Reinsve macht in Joachim Triers Coming-of-Age-Film »The Worst Person in the World« auf sich aufmerksam. Mit The Gap sprach sie über ihre erste große Rolle, für die sie in Cannes als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde.
Julie (Renate Reinsve) kann sich nicht entscheiden: Soll sie Medizin studieren? Psychologie? Oder doch lieber als Fotografin arbeiten? Nicht nur ihre berufliche Laufbahn verläuft holprig, ihre Beziehungen sind es auch: Anfangs ist da Comic-Künstler Aksel (Anders Danielsen Lie), ihr 15 Jahre älterer Freund. Später lernt sie Eivind (Herbert Nordrum) kennen. In Joachim Triers drittem Teil seiner Oslo-Trilogie sehen wir eine Frau, die entdeckt und läuft und hadert; mit sich, den anderen sowie den gängigen Vorstellungen unserer Gesellschaft.
Für ihre Darstellung der Julie wurde Renate Reinsve von der Kritik gelobt und in Cannes als beste Schauspielerin prämiert – und das zu Recht. Ihr gelingt es, authentisch eine junge Frau auf der Suche darzustellen; eine Suche, mit der sich übrigens – wie sie im Interview verrät – auch ihre 80-jährige Großmutter identifizieren kann.
Du hast mit Joachim Trier bereits bei seinem vorigen Film, dem zweiten Teil der Oslo-Trilogie, »Oslo, 31. August«, zusammengearbeitet und nun wieder für »The Worst Person in the World«. Warum wolltest du nochmals mit ihm arbeiten und wie würdest du seine Art, Regie zu führen, beschreiben?
Renate Reinsve: »Oslo, 31. August« war meine erste Filmrolle, davor habe ich – seit meinem neunten Geburtstag – Theater gespielt. Ich hatte im Film zwar nur einen Satz, aber aufgrund der Lichtverhältnisse mussten wir die Szene sehr oft drehen. Im Film habe ich ein Partygirl dargestellt, mein Text war dementsprechend auch »Let’s go to the party!«. Es war so einfach, mit Joachim zu arbeiten, es war wie mit einer Gruppe von Freund*innen. Es hat einfach Spaß gemacht. Und ich dachte mir damals: Das ist also das Schauspielern? Es war fantastisch.
Dann bekam ich eine kleine Rolle in einem anderen Film und stellte fest: Hier war es komplett anders. Die Leute waren sehr steif, der Regisseur hat geschrien. Es hat sich niemand um mich gekümmert, alle haben gestritten. Ich bekam keine Infos und es war sehr chaotisch. Später lernte ich: So ist es meistens beim Film. Deshalb wusste ich es noch mehr zu schätzen, mit Joachim zu arbeiten.
Er macht tolle Filme, da er Menschen respektiert, und er verurteilt niemanden – das zeigt sich auch darin, wie er Figuren schreibt. Er macht sie sehr komplex. Die Figuren können vielseitig sein – langweilig, lustig, glücklich, suchend. Wie Menschen eben sind. Mit ihm zu arbeiten ist genau so: Du fühlst, dass du gesehen wirst. Du wirst miteinbezogen. Du machst also deine beste Arbeit, weil du so viele Freiheiten hast. Joachim ist in seiner Tätigkeit außerdem sehr bescheiden: Er hört sich alle Meinungen an und er ist der Ansicht, dass die Arbeit aller zum Gesamterfolg des Films beiträgt.
Ich könnte stundenlang darüber reden, warum es so großartig ist, mit ihm zu arbeiten. Es ist sehr ungewöhnlich, da er so viel Platz für dich als Schauspieler*in macht. Bei vielen anderen Projekten geht es viel ums Geld und um die Zeit; viele lassen dir keinen Platz. Joachim hat außerdem gute Wertvorstellungen und diese bringt er in jedes Projekt ein.
Wie hast du ihn kennengelernt?
Das ist eine lustige Geschichte: In »Oslo, 31. August« hat quasi jede*r Schauspieler*in aus Norwegen mitgespielt. Ich wurde lange nicht gefragt, daher dachte ich, dass ich nie eine »echte« Schauspielerin sein und nie in einem Film mitspielen werde. Aber dann wurde ich doch gefragt und gebeten, ein Audition-Tape aufzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade in einer Hütte im Wald. Ich fuhr also so schnell wie möglich nach Hause. Ich war so schmutzig, aber habe mich dennoch sofort vor den Computer gesetzt und mein Tape vorbereitet. Ich dachte nicht, dass ich den Part bekomme, aber ich habe es eben versucht. Dann wusste ich jedoch nicht, wie ich die Aufnahme senden kann, also habe ich sie einfach auf Youtube gestellt – und dort ist sie noch bis heute online, da ich nicht weiß, wie ich das Video offline nehmen kann. Das war der Beginn. Ich glaube, Joachim gefiel meine chaotische Art.
Im Film spielst du die Hauptfigur Julie. Eine junge Frau, die ziemlich verloren zu sein scheint: Sie wechselt ihre Jobs bzw. Ausbildungen und sie versucht überdies, Klarheit in ihr Liebesleben zu bringen. Wie würdest du sie beschreiben und wie hast du dich auf die Rolle vorbereitet?
Für mich war Folgendes sehr wichtig: Jede Szene des Films enthält so viel. Alles ist sehr komplex. Ich konnte mich zwar in Julie erkennen, aber ich wusste nicht genau, wie ihr Denken funktioniert. Julie ist sehr verletzlich, aber oft auch distanziert. Sie hat sich lange nicht akzeptiert, darauf spielt ja auch der Titel des Films an: Sie denkt, dass sie wirklich »the worst person in the world« sei. Daher hatte ich viel Angst. Ich befürchtete, der Rolle nicht gerecht zu werden.
Ich habe mich lange gefragt, wie viele Gefühle ich in jede Szene packen kann. Ich wusste, dass ihre Emotionen sich oft im Film ändern werden. Nehmen wir die Szene her, in der sie aus dem Restaurant kommt und dann auf die Stadt blickt: Sie merkt, dass etwas nicht stimmt und sie fühlt sich einfach nicht wohl, aber sie weiß nicht warum. Sie schaut dann auf die Stadt, auf diese unglaublich schöne Szenerie und da merkt sie, dass sie keine Verbindung zu ihrem Leben hat. Sie wird also traurig, will es aber nicht sein. Also wird sie wütend und enttäuscht. Sie geht zurück zur Hochzeit und will glücklich sein. Sie sabotiert sich aber selbst und flirtet mit diesem anderen Typen. Das ist so ein interessanter Ansatz, einen Charakter zu zeigen, und ich wollte daher jede emotionale Achterbahnfahrt der Figur darstellen und erfahrbar machen.
Der Film ist ja auch in zwölf Kapitel eingeteilt, darin zeigt sich ebenso ein Prozess der Figuren.
Genau, auch Julie ist in unterschiedlichen Kapiteln in ihrem Leben.
Manche sagen, dass Julies Weg und ihre Probleme sie an die Herausforderungen, die viele Millennials haben, erinnern. Siehst du das auch so? Und wie hast du, gemeinsam mit Joachim Trier, der ja 1974 geboren wurde, versucht, diese Generation darzustellen?
Über diesen Aspekt, also den Aspekt der Generationen, haben wir ehrlich gesagt gar nicht gesprochen. Wir haben über die Philosophie und Psychologie der Figur gesprochen und was sie alles durchmacht. Zudem spielt Zeit eine große Rolle – also die Zeit, in der wir leben. Natürlich ist es schwer, diese in dem Moment, in dem wir sie erleben, zu beschreiben. Aber Joachim liebt es, mit Zeit zu spielen: So stoppt er sie einmal, aber er dehnt sie auch. Zeit ist also sehr wichtig für ihn.
Ich habe auch darüber nachgedacht, was Zeit für mich bedeutet. Natürlich weiß ich nicht, wie Joachim das sieht – ich kann nur für mich sprechen – aber ich sehe es so: Wir haben mehr Chancen heutzutage. Wir können auch in einem höheren Alter erwachsen werden und uns verändern, etwa beruflich. Wir haben das Paradoxon der Möglichkeiten. Das ist zwar ein Privileg, aber auch ein Problem für viele.
Zudem haben wir mehr Medien und vor allem Social Media. Es prasseln so viele Infos permanent auf uns ein und oft wissen wir nicht mehr, was wahr ist und was nicht. Das ist alles sehr verwirrend. Social Media ist auch so eine Sache: Es ist social, aber es ist auch ein Marktplatz, um Produkte zu verkaufen und auch wir selbst werden zu Brands: Du sollst also ein Produkt sein, und zugleich ein Mensch. Dieses Problem kennen aber nicht nur Millennials. Auch meine Großmutter, die nun über 80 ist, hat ihren Beruf oft gewechselt. Sie hat einen neuen Freund, einen coolen Biker. Sie ist auch auf Instagram und kennt die Probleme, die uns beschäftigen. Auch sie hat sich in Julie wiedergesehen. Der Film ist also, meiner Ansicht nach, kein Film über Millennials, sondern über die Zeit, in der wir leben. Dieser Film ist für alle da.
Den Film könnte man als düstere Rom-Com betrachten oder als Coming-of-Age-Film. Er ist in manchen Szenen herzlich, gegen Ende aber auch düster, das Thema Tod wird etwa behandelt. Welche Herausforderungen gab es für dich, diese Rolle darzustellen?
Ja, ich habe eine völlige neue Weise gelernt, Schauspielerin zu sein: Immer, wenn ich eine kleine Rolle in einem Film hatte, wurde mir immer gesagt: Zeige klar, was deine Figur fühlt. Mir wurde meist ebenso gesagt, dass ich etwas sehr spezifisch fühlen soll. Joachim hat eine andere Art. Er sagte mir: Mentalisiere das Gefühl – und vergiss es dann.
Es geht ihm darum, dass du so gut wie möglich entspannen sollst und die Kontrolle abgeben sollst. Er pusht dich also nicht. Das ist der große Unterschied. Ich sollte auch nicht alles zu 100 Prozent richtig machen. All meine Fehler sind im Film drinnen. Wenn ich etwa versuchte etwas zu verstehen, zum Beispiel eine Emotion, die ihren Weg nach draußen fand, griff er das im Film auf.
Er wollte also nicht, dass du sofort perfekt bist?
Genau. Das wollte er nie. Ich hatte zwar für jede Szene einen Plan, aber manche Szenen waren auch improvisiert.
Und wirst du dies auch bei künftigen Projekten so handhaben?
Ich hoffe, ich bekomme die Chance dazu, da es mir mehr Möglichkeiten gibt, kreativ zu sein. Sonst ist man oft sehr steif und verängstigt, da man zu viel Kontrolle über die Szene haben möchte.
In »The Worst Person in the World« hast du deine erste große Filmrolle, von der Kritik gab es viel Lob für deine Performance. Welchen Effekt hat das auf deine künftige Arbeit?
Ich musste in letzter Zeit viel Projekte absagen, um mit diesem Film auf Tour zu gehen, und bald geht die Phase vor den Oscars los. Also hatte ich noch nicht so viel Zeit, um darüber nachzudenken. Aber es ist eine gute Frage. Es ist die größte Anerkennung, die ich jemals erfahren habe. Das ist überwältigend. Ich bin sehr euphorisch und glücklich.
Ich werde das Lob etwas vergessen müssen, wenn ich die nächste Rolle vorbereite, das wird eine Herausforderung. Aber ich denke, ich muss das tun. All diese Anerkennung und alle Awards sind nicht für mich, sie sind für das Projekt. Sie gehen an Joachim und an alle aus dem Team. Wir teilen uns die Preise und die Anerkennung und das Lob.
Wenn ich es also schaffe, die gleichen Werte ins nächste Projekt mitzunehmen, dann wäre das großartig. Es geht nicht um mich als Schauspielerin, es geht immer darum: Was braucht die Szene, was braucht der Film per se? Ich hoffe, dass ich künftig mehr Selbstbewusstsein habe; dass ich mir denke: Hey, ich kann das wirklich! Aber ich möchte weiterhin bescheiden bleiben, das ist mir sehr wichtig.
Der Film wurde als norwegischer Beitrag in der Kategorie »Best National Feature Film« bei den 94. Academy Awards eingereicht. Wie würdest du die norwegische Filmszene beschreiben? Welche Filme werden produziert?
Es gibt so viele talentierte Leute in Norwegen, aber leider sind wir keine Filmnation und die Regierung gibt nicht viel Geld für Filmproduktionen aus. Kommerzielle Projekte erhalten mehr Geld bzw. Menschen, die bereits etabliert sind. Joachim zum Beispiel hat jahrelang gegen das System gearbeitet; der erste Film, den er gemacht hat, hat er mit so wenig Geld realisiert. Nun hat er zwar mehr finanzielle Unterstützung – aber das auch erst nach 20 Jahren Arbeit.
Man sollte den Leuten aus der norwegischen Filmbranche mehr Geld und mehr Chancen geben. Ich hoffe, dass unser Film dazu beitragen kann, dass die norwegische Filmbranche mehr Selbstbewusstsein bekommt und die Regierung mehr Geld verteilt. Die Regierung sollte erkennen, dass es sich auszahlt, den Fokus auch auf Kunst zu setzen – und nicht nur auf kommerzielle Projekte. Norwegen ist mehr für Musik bekannt und natürlich für Sport. In Cannes wurden wir ständig mit Sportanalogien konfrontiert: »This is like coming to the Olympics!«, haben Journalist*innen oft zu uns gesagt.
Was assoziierst du mit der österreichischen Kultur- bzw. Filmszene? Kennst du österreichische Filme bzw. Regisseur*innen?
Ich kenne natürlich schon berühmte Österreicher*innen wie Sigmund Freud, aber österreichische Filme kenne ich leider nicht; vielleicht habe ich einmal welche gesehen, ohne zu wissen, dass sie aus Österreich waren. Aber ich habe das Gefühl, dass Kultur bei euch ein wichtiger Teil der gesellschaftlichen Identität ist und Menschen innerhalb der Kulturszene ihren Weg gehen können ohne deswegen beschämt zu sein bzw. das Gefühl zu haben, keinen Platz zu finden. Zumindest ist das mein Eindruck. Das kann großen Einfluss darauf haben, wie bzw. ob Menschen sich künstlerisch entwickeln.
Welche Pläne verfolgst du mit deiner Schauspielkarriere? Welche Rollen und Themen findest du noch interessant?
Ich liebe Projekte, in denen der*die Regisseur*in genug Raum hat, um die eigene künstlerische Idee umzusetzen. Ich liebe gute Drehbücher. Nun habe ich die Möglichkeit, noch mehr Drehbücher zu erhalten und zu mehr Castings zu gehen. Das ist natürlich fantastisch. Ich empfinde es als wirklich großes Privileg, Meetings mit Produzent*innen, Casting-Direktor*innen und Regisseur*innen zu haben.
Ich habe keinen konkreten Vorstellungen darüber, welche Rollen ich spielen möchte; wenn es sich richtig anfühlt, dann ist es auch richtig. Ich mag es, wenn Menschen versuchen, sich einem Thema aufrichtig und ehrlich zu nähern. Dieser Film tut dies auch. Ich liebe Philosophie und Psychologie und wenn ein*e Regisseur*in dies auch tut, dann möchte ich an diesem Projekt beteiligt sein. Jeder fragt mich, ob ich nun in Marvel-Filmen mitspielen werde, aber ich denke, nicht. (lacht) Nächsten Frühling, Sommer und Herbst drehe ich für drei interessante Projekte. Darauf freue ich mich schon.
Konntest du bisher durch deinen Job auch etwas über dich und dein Leben lernen?
Auf jeden Fall, wenn du mit einem wirklich guten Drehbuch arbeitest. Denn dann hast du einige Erleuchtungen – auch über dich. Du erhältst andere Perspektiven auf die Welt und auf dich selbst.
»The Worst Person in the World« (von Joachim Trier und mit Renate Reinsve) feierte seine Österreichpremiere als Abschlussfilm der Viennale 2021. Er läuft voraussichtlich im Frühjahr 2022 in den heimischen Kinos an.