Die Schneide der Subkultur
Gibt es Mainstream, dann gibt es zwangsläufig auch Underground. Treffender formuliert: Kultur hat ein breites Spektrum. »AX« gewährt Einblicke in die zeitgenössische Subkultur des Manga.
Interesse an Manga zu haben ohne des Japanischen mächtig zu sein bedeutet, dass man nur einen kleinen Auszug dieser reichen Comic-Kultur erleben kann. Die bunte Auswahl der vielsprachigen Übersetzungen scheint enorm, aber Manga sind so sehr Teil der japanischen Alltagskultur, dass sogar dieses Füllhorn nur ein schmaler Auszug der üppigen Bandbreite der Manga ist. Dem Vorbild von Drawn & Quarterly folgend, die mit englischen Übersetzungen von Yoshihiro Tatsumi (dem Begründer der Gekiga, »ernsthafter Comics«) bereits Vorarbeit in Sachen Manga-Geschichte leisteten, veröffentlichen Top Shelf Productions die erste Ausgabe von »AX« unter der Leitung von Sean Michael Wilson. »AX« umfasst eine Auswahl eigens übersetzter Beiträge aus dem gleichnamigen japanischen Magazin, das als Nachfolger des legendären Magazins »Garo« sich seit 1998 darum bemüht, einen Kontrapunkt zur Standardkost zu bieten. 400 Seiten voller Gekiga, die nichts mit Dragonball, Clamp oder Yaoi zu tun haben. Autobiografisch inspirierte Parabeln, psychologische Horrorseifenopern, mäandernde Traumdeutungen, allegorische Mini-Krimis. In krakeligen Kinderstrichen, überladenen Tuscheorgien, stilisierten Expressionen und schiefen Annäherungen an populäre Zeichenstile. Das unnahbare Japan, von dem so viele aus der Ferne annehmen, dass es nur aus dem Kontrast von High-Tech, Großstädten, Reisfeldern, Shinto-Schreinen, Tempeln, Samurai und Yakuza besteht, hat aber selbstverständlich Myriaden an anderen Facetten. Während die heurige Viennale zum Beispiel im Dokumentarfilm »Japan: A Story Of Love And Hate« eine solche Facette beleuchtet, so bringt uns »AX« einen bisher schwer zugänglichen und wahrscheinlich auch fremden Aspekt der modernen japanischen Kultur. Und im Gegensatz zum verbreiteten Vorurteil ist in diesem Fall nicht alles uniform und folgt dem gleichen Muster. Diese Subkultur könnte kaum heterogener sein und ist reich an einzigartigen Idiomen. Darin belohnt es auch die Neugier des Forschers, denn wo so ein starker, scheinbarer Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Norm und individuellem Ausdruck herrscht, dort kann die Kunst besonders vehement um die persönliche Wahrheit kämpfen. Das Resultat sind berührende, gedankenvolle, tragische und komische Gekiga, Comics abseits des Mainstreams. Eine Aufzählung der beitragenden Künstler wäre nur für den Kenner von Interesse, daher sei sie hier vermieden. Viel mehr sollte gelten, dass für jeden, der die Kunst des Comic zu schätzen weiß, sich dank »AX« eine fantastische neue Fundgrube aufgetan hat, die sich hoffentlich nicht so bald wieder schließt.