Mein Körper, nicht ich
Identität und Gender in Komplexität wie Schlichtheit anhand eines Jungen und eines Mädchens, beide im falschen Körper. Shimura Takako betrachtet heimliche Tabus.
In vielen Elementen japanischer Kulturen und Traditionen ist Geschlecht, Gender und Identität beinahe unaustauschbar. Noch stoischer scheinen dort biologische Faktoren mit sozialen Erwartungen verbunden zu sein, als wir es aus unseren Kulturen kennen. Andererseits existiert in den Zwischenwelten des Shintoismus und Buddhismus, aber auch in der säkularen Kunst Japans ein fließender Umgang mit eben diesen Tropen. Wie so oft ist das ein Widerspruch, der in Japan ungern thematisiert wird. Es wirkt, als ob es keinen behutsamen, klaren Weg gäbe, um von außen ein Verständnis dieses Konstrukts zu erlangen. Darin gleicht Japan der restlichen Welt. Shimura Takako versucht daher, mit dem vorsichtigen Skalpell eines Chirurgen an den Kern zu gelangen, wo jeder »Fehler« eine blutige Eruption an Missfallen und Ablehnung verursachen kann.
Shuichi Nitori steht an der Schwelle zur Pubertät. Und der Erkenntnis, dass er vielleicht lieber ein Mädchen wäre und kein Junge. Wenn seine Freunde von seinen femininen Zügen sprechen und meinen, dass er hübsch wie ein Mädchen ist, dann freut ihn das insgeheim. Er gefällt sich selbst in Kleidern. Aber noch weiß Shuichi nicht, was das bedeuten soll. Ist es ästhetische Vorliebe oder sexuelle Präferenz oder etwas anderes? Yoshino Takatsuki geht es genau so wie Shuichi, nur wäre sie lieber ein Junge. Das geteilte Geheimnis verstärkt die Wurzeln ihrer neuen Freundschaft. Takako bewegt sich formell innerhalb der Grenzen eines genau abgesteckten Wertesystems, dem /shōjo manga/: Manga für Mädchen. Inhaltlich auf ein soziales Muster festgelegt, in dem Mädchen Romanzen, Emotionen und »Sanftes« bevorzugen. Inhaltlich schnürt Takako dieses Korsett aber auf. Zwar ist »Wandering Son« kein tragisches Drama, keine vordergründige Gesellschaftskritik, aber ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Gender Identity ist eine Rarität im Manga-Mainstream. Also legt Takako ein Beziehungsbild vor, klar nach den Regeln des /shōjo manga/. Erblühende Jugend, Unsicherheiten, Freundschaften, Liebschaften und Eifersucht, alles mit einem lyrischen Weichzeichner versehen. Darin dreht sich jedoch alles um das Tabu des Jungen, der ein Mädchen sein will und des Mädchen, das ein Junge sein will.
Kann es Shimura Takako gelingen, in diesem Schwebezustand zwischen pionierhaftem Bemühen und gefälligem Mainstream zu einer Aussage zu kommen? Wohl nicht, aber das scheint auch nicht ihr Ziel zu sein. »Wandering Son« bemüht sich, die unsichtbaren, heimlichen Konstruktionen zu erkunden, die Identitäten einzementieren. Takako versucht, aus einer neutralen Situation – der verständnisvollen, offenen Umgebung der Protagonisten – ein Bild der allgemeinen Wertvorstellungen und deren Einflusses zu erarbeiten. Bereits darin bricht sie mit Erwartungshaltungen, denn angeblich will ja die Leserschaft von /shōjo manga/ nichts dergleichen lesen. Das brachte der Serie eine Heimat in einem Magazin für /seinen manga/ (junge Männer), wo »Wandering Son« abermals mit Vorstellungen über die Leserwünsche brach. Fantagraphics veröffentlicht nun zum ersten Mal eine englische Übersetzung dieses mutigen Werks.