Dear Science

Das neue Album von TV On The Radio überrascht mit verdichteten Song-Strukturen und im Takt schwingenden Experimenten, ohne dabei die durchwachsene subversive Kraft zu verlieren.

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Im Jahr 2004 wehte ganz besonders frischer Wind vom fernen New York her. TV On The Radio traten in das Licht der Öffentlichkeit und setzten mit „Desperate Youth, Blood Thirsty Babes“ ein Zeichen, das seinesgleichen suchte und es zwei Jahre später auch zu finden schien. „Return To Cookie Mountain“ war der Titel des Nachfolgewerks und erwies sich als noch facettenreicher, innovativer und auf hohem Niveau verspielter, als es das Debüt war. Treibende Rhythmen und Geräuschkulissen, die sich in Sound-Experimenten ergaben, aber zum Teil auch den geraden Weg Richtung Fäuste und Bauch wählten. David Bowie gab sich unter anderem auf diesem Album die Ehre und markierte mit seiner stimmlichen Unterstützung bei dem Song „Province“ ein weiteres Mal die Musikgeschichte an richtiger wie wichtiger Stelle.

Warten ist wahrscheinlich nur dann am Schönsten, wenn Erwartungen erfüllt oder gar übertroffen werden können. Beides trifft zwei Jahre später – lange nach 9/11, nach Hurricane Katrina (Stichwort: „Dry Drunk Emperor“) und mitten im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf – auf „Dear Science“ zu. TV On The Radio sind in ihrem kreativen Schaffen erwartungsgemäß nicht stehen geblieben, sondern haben Vieles anders, Vieles neu und Vieles noch interessanter gemacht. Die Entwürfe und Versuche des Debüts sind nun nicht mehr so deutlich erkennbar. Dessen wilder und widerständiger Gestus ist zwar nach wie vor präsent, doch der Fokus hat sich ein Stück weit verlagert. Die subversive Kraft ihrer Songs bleibt gewohnt stark, entspringt aber einer neuen vordergründigen Mitte. So dienen Bläser, Streicher und Synthies häufiger der Unterstützung von Spannungsbögen als dem Brechen derselben. An Gospel erinnernder Gesang wird jetzt verstärkt zelebriert, während Beats abwechselnd tragen und treiben. Klatschende Hände geben einen von vielen Takten vor („Golden Age“) und dann wird plötzlich wieder alles anders als erwartet („Family Tree“). Die Band, mittlerweile auf fünf mitproduzierende Mitglieder angewachsen, hat die Komplexität ihrer vielschichtigen Kleinoden etwas in den Hintergrund gerückt, was auf ebenso subtile wie effektive Weise nun die Basis für fassbare Song-Strukturen bietet. Ohne sich an gängige Pop-Schemata anzubiedern, geschehen der Oberfläche nach direktere Zugänge und Verdichtungen. Es gibt zwar hörbare Anleihen bei Funk, Soul und vielleicht sogar Disco, doch auf der Basis ihres bisherigen Schaffens kreieren sich die Herren rund um Produzenten David Sitek auch 2008 völlig eigenständige, neuwertige Konzepte experimentierfreudiger Musik, die auch am Tanzboden funktioniert. TV On The Radio haben es wieder geschafft. „Dear Science“ ist genug zeitlos wie eigenständig und bietet den für die Band nötigen Raum, um sich auch künftig wieder auf die Suche nach seinesgleichen begeben zu können.

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