Bei der großen New Wave-Revival-Welle um die Jahrtausendwende waren Clinic ganz vorne mit dabei. Schon damals waren sie die Traditionalisten unter den Neo-Wavern. Mit „Free Reign“ outen sie sich endgültig auch als Puristen.
Das letzte Album der Briten konzentrierte sich auf schöne Songschreiberei mit vermehrt akustischen Instrumenten und hieß passenderweise „Bubblegum“. Dieses Mal schlägt die Nadel in die andere Richtung aus, weg von der Verspieltheit.
"Free Reign" legt die Betonung auf den Punk im Post-Punk. Einfachheit und dilettantischer Charme transportiert mit anderen Mitteln: Clinic erinnern sich an eine ursprüngliche Idee von Post-Punk. Die Klarinette klingt wie ein schlechtes Sample, wäre da nicht das Überblasen, das sie entlarvt. Aber nur das Unperfekte an ihr darf sich zeigen. Textzeilen, Bassfiguren und Rhyhtmusphrasen in gnadenlosen Endlosschleifen, für ein Maximum an Eindringlichkeit und ohne Angst vor Stolpern und Hängen.
Gleichförmig- und –gültigkeit bestimmen den Ton, nicht nur von Ade Blackburns lispelnden Nuschelgesang, der sich damit wunderbar ins synthetische Gesamt-Klangbild fügt. Sowohl die Wärme des Vorgängers als auch die Energie des Punk werden auf „Free Reign“ von der Wave-Coolness absorbiert. Das Velvet Underground-Portrait an der Ahnen-Wand haben die vier Musiker aus Liverpool abgehängt. Von Gitarren-Einflüssen keine Spur mehr, die sechs Saiten setzen sich nicht in Szene, sondern bleiben als ein Klangerzeuger unter vielen im Hintergrund.
„Free Reign“ ist ein gutes Wave-Album und Clinic eine gute Post-Punk-Band, die sich innerhalb des Genre-Kosmos zwischen dessen Ausdrucksmöglichkeiten hin und her und zwischen seinen historischen Einflüssen vor und zurück bewegt. Konsequent bleiben sie innerhalb der Grenzen, ohne auf der Stelle zu treten. Aber auch auf ihrer eigenen Insel in diesem Kosmos haben Clinic weitaus aufregendere Alben geschaffen. Und letztlich ist keine Band und kein Album eine Insel. Es bleibt das Gefühl eines verirrten, verwirrten Zeitreisenden, der auf „Free Reign“ trifft. Welches Jahr nach Punk haben wir?