Unsere morbide Farm
Etliche namhafte Publikationen schrieben über Alison Bechdel und „Fun Home“. Diese scharfsinnige Autobiographie ist jetzt schon ein Referenzwerk und sollte als Meilenstein gewürdigt werden.
Alison Bechdel wird einigen bekannt sein. Bereits seit 1983 zeichnet sie „Dykes To Watch Out For“, ein legendärer Cartoon über eine Gruppe lesbischer Freundinnen. Bechdel ist in ihrem Umfeld politisch aktiv, was homosexuelle Belange betrifft. Sie ist Furcht erregend gebildet, lesbisch, meinungsstark und besitzt einen rasiermesserscharfen Verstand. Was erzählt uns solch eine Frau also in einer Autobiographie? Ihr Coming out?
Das wäre dann wohl für Bechdel zu plump und wahrscheinlich auch viel zu uninteressant. Stattdessen gräbt sie die Krallen ihrer Selbstanalyse in ihre Familie und beleuchtet das Verhältnis zu ihrem Vater. Sie gewährt uns Einblick in das Leben eines jungen Mädchens, in einer Umgebung voller widersprüchlicher Signale. In ihrem Heim lebt jedes Familienmitglied trotz räumlicher Nähe für sich. Die Beziehungen zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter sind ebenso mysteriös, wie prägend. Ein Vater, der sich hingebungsvoll mit dem Erscheinungsbild ihres Hauses auseinandersetzt, aber Intimitäten mit seiner eigenen Familie vermeidet. Wir folgen Alison, wie sie rückblickend zu erkennen versucht, warum sich ihr Leben so gestaltet hatte und was für ein Geheimnis ihren Vater umgab. Intelligent und wortstark offenbart sie ihren Lesern die verheimlichte Homosexualität des Familienoberhauptes, die Ungereimtheiten, die erst später Sinn ergaben, untersucht Verknüpfung zu ihrem eignen Coming out und gräbt tief in ihrer Psyche. Alison Bechdel lässt uns an intimsten Momenten ihres Lebens teilhaben, öffnet sich in erbarmungslos ehrlichen Bildern und bedeutungsschweren Worten. Doch was ist der wahre Reiz von „Fun Home“? Hätte man kein Interesse am Leben einer Alison Bechdel, welche anderen Gründe gäbe es diese Autobiographie zu lesen?
Bechdel erzählt uns ausschließlich von sich selbst und es ist wohl mehr Zufall, wenn man direkte Parallelen im eigenen Leben erkennt. Doch genau in dieser Unverwechselbarkeit liegt der Wert von „Fun Home“. Hier wird man mit der tatsächlichen Macht von Bechdels Intellekt konfrontiert. Ihre ungeniert detaillierte Analyse einer Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich auf tragische Art und Weise unbegreiflich nahe stehen und doch distanzierter nicht sein könnten, kontrahiert mit dem frühen Tod ihres Vaters und den vielen dadurch verbleibenden offenen Fragen. Unterstütz von ihren Zitaten und Vergleichen aus der Literatur befindet man sich nun nicht mehr in ihrer Autobiographie, sondern in einem autobiographischen Roman. Und schon einige Schritte weiter vertieft man sich völlig in die Charaktere, versucht zu begreifen, was in ihrem Gemüt vorgehen mag. Dabei trifft man dann auf die Autorin, deren eigenes Anliegen das Erlangen genau dieses Verständnisses ist. „Fun Home“ wirkt oberflächlich nüchtern, doch packt es einen an unerwarteten Stellen, überrascht einen mit Gefühlsverwirrung. „Fun Home“ ist vielleicht eines der wertvollsten Comics dieses Genres und sollte darüber hinaus auch für die Kunstform generell von großem Stellenwert sein. Ich weiß nicht mehr über Bechdel, als sie in „Fun Home“ Preis gibt, doch ich hege die Vorstellung, dass sie uns mit diesem Beitrag zu ehrlicheren Menschen machen will.