Harald Welzer hat ein altmodisches Buch verfasst, und dabei trotzdem das Potenzial von Religion übersehen.
Eigentlich ist es ein altmodisches Buch, was da Harald Welzer (Jg 1958) trotz beeindruckend guter Formulierungen verfasst hat. Altmodisch im Sinne von graumelierter Zeitgenossenschaft: Wie kann es sein, dass so viele Selbstverständlichkeiten der eigenen Kindheit und Jugend dermaßen entwertet wurden. Etwa die Begeisterung für die Zukunft: Für die lange Gegenwart konstatiert der Zukunftsforscher den Verlust an Zuversicht. Kein Wunder, und hier greift Welzer sprachlich ins Volle, haben wir uns doch längst angewöhnt, das eigene Denken abzugeben. Heftig kritisiert er den umgreifenden Konsumismus, den damit einhergehenden Ressourcenverbrauch, das Oberflächen-Leben der westlichen Kultur, die ruinöse Geschichtslosigkeit. Klingt alles ziemlich heftig, bei Welzer liest es sich aber nicht bissig, und Gott sei Dank auch nicht langweilig-apokalyptisch. Ziemliches Fett kriegen die Grünen als Bewegung ab, denen Welzer ihr Einschwenken auf den grüngestrichenen technologischen Machbarkeitspfad , der sich geschmeidig in die smarte Gegenwart ohne Veränderungsdruck einfügt, vorwirft. Aber ohne Veränderung des Einzelnen wird sich nichts ändern, so Welzers Kernaussage. Und die größte und nachhaltigste Veränderung wäre die Wiederinbetriebnahme des eigenen Ichs, der eigenen Wünsche, das Insistieren auf Eigensinn und Eigenverantwortung. Interessanterweise lässt Welzer das Potential der Religionen völlig beiseite, wie wohl in Christentum oder etwa Islam die Bewahrung der Schöpfung vorhanden ist. Welzer, der neben einer Professur in der Schweiz für Transformnationsdesign auch für die Privatstiftung Futur Zwei arbeitet, hält es da lieber mit der Aufklärung. Gut so, in den Fangnetzen gegenwärtiger Diskurse findet sich das Religiöse eh schon beinahe zu oft. Der dramaturgische Bogen ist bei Welzer klassisch, sodass sich auch erst am Ende die Muntermacher in Form von Kurzporträts von Zeitgenossen finden, darunter übrigens auch Heini Staudinger mitsamt seiner Waldviertler Schuhfabrik. Selbst denken, selbst den eigenen Weg finden: Wer das letzte Quentchen Aufforderung dazu braucht, ist mit Welzers Lektüre sehr gut bedient.
Harald Welzer, Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main 2013, 328 Seiten, ISBN 978-3-10-089435-9