Kartongeschichte

Wenn ein Zeitschriftenverlag eine „Bibliothek“ herausgibt, in der Autoren „ihre Geschichte vom Meer“ erzählen, läuten erst mal die Alarmglocken. Finger weg, da muffelts nach Strandlektüre – also nach „Literatur“, die auch dann noch problemlos runtergeht, wenn einem der gekübelte Sangria wieder hochzukommen droht und Haut wie Hirn längst sonnenverbrannt darniederliegen. Andererseits: Wo Helmut Krausser draufsteht, […]

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Wenn ein Zeitschriftenverlag eine „Bibliothek“ herausgibt, in der Autoren „ihre Geschichte vom Meer“ erzählen, läuten erst mal die Alarmglocken. Finger weg, da muffelts nach Strandlektüre – also nach „Literatur“, die auch dann noch problemlos runtergeht, wenn einem der gekübelte Sangria wieder hochzukommen droht und Haut wie Hirn längst sonnenverbrannt darniederliegen. Andererseits: Wo Helmut Krausser draufsteht, kann eine Dodelgeschichte nicht drin sein. Und tatsächlich fährt der deutsche „Künstler der Verführung“ (/Süddeutsche Zeitung/) mit einem verschrobenen Personeninventar auf, das sich in keinerlei Schablonen pressen lässt. Da wären auf weiblicher Seite einmal die vormals magersüchtige Eri, die ihr täglich Brot als Putzfrau im „Sündenpfuhl“ Pornokino verdient sowie die Veterinärmedizinstudentin Liz, die als silberne Podestfigur stundenlang in Fußgängerzonen herumsteht und auf Almosen von Touristen hofft. Dazu gesellt sich ein nicht minder dubioses Burschentrio: der zugedröhnte Stricher Angelo, „schwul bis in die Zehennägel“, sein dunkelhäutiger Ersatzdaddy Jonas sowie der ewige Loser Stan. Diese Mannschaft aus durchgeknallten Freaks erster Güte durchlebt nun mehr oder weniger heilvolle Affären homo- und heterosexueller Natur und versucht nebenbei auch noch, eine Leiche möglichst unbemerkt verschwinden zu lassen. Eine Unternehmung, bei der ihnen das Meer und ein Stück Karton wertvolle Dienste leisten werden, wie das durchaus pointierte Finale verrät. Krausser erzählt witzig, leichtfüßig und originell, selbst wenn das Spiel mit der Romanform als Artefakt – etwa durch den Einschub eines „Deleted Chapter“ oder die Thematisierung der Handlung als fiktives Konstrukt – seit Laurence Sternes „Tristram Shandy“ (1769) ein alter Hut sein mag. Die Geschichte rattert, was das Zeug hält. Doch bei aller Spritzigkeit und Unangepasstheit fehlt es dem Kurzroman letztlich doch an Substanz. Und so bleiben schon wenige Stunden später, nachdem man mit Vollgas durch rund 150 Seiten gerumpelt ist, nur vage Erinnerungen daran, was man da eigentlich gerade gelesen hat. Womit wir doch wieder beim Thema Strandlektüre wären.

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