Einwanderermärchen
Die famosen Brüder Dardenne ersetzen in „Lornas Schweigen“ ihren patentierten Körper-Materialismus durch wendige Plot-Manöver – und überspannen dabei auf nicht uninteressante Weise den Bogen.
Etwas stimmt nicht. Der neue Dardenne-Film beginnt mit Momentaufnahmen einer fingierten Existenz: Eine junge Frau kümmert sich in einer Bank in Lüttich um ihre Finanzen, ruft nachher ihren Geliebten an. Dann geht sie nach Hause, wo sie mit einem lästigen Junkie die Einkaufskosten verrechnet: Wie sich allmählich herausstellt, ist er ihr Ehemann. Lorna (Arta Dobroshi) kommt aus Albanien und hat den drogensüchtigen Claudy (Jérémie Renier) für die Heirat bezahlt. Die Hintermänner, die den Deal eingefädelt haben, fordern von Lorna eine Gegenleistung: Sie soll ihrerseits einen wohlhabenden Russen heiraten, der ebenfalls die belgische Staatsbürgerschaft will. Claudy muss vorher weg, am besten per Überdosis …
Dass etwas nicht stimmt im neuen Dardenne-Film, haben auch viele Kritiker festgestellt, als „Le Silence de Lorna“ letztes Jahr in Cannes Premiere feierte: Die bebende, taumelnde 16mm-Kamera, die sich seit „La Promesse“ (1996) an die Leiber ihrer (sub)proletarischen Modernisierungsverlierer-Figuren saugte, haben die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne hier weitgehend aufgegeben zugunsten verhältnismäßig ruhiger, übersichtlicher 35mm-Bilder, die vorzugsweise das Ganze einer Situation in den Blick nehmen. Die gewagten Haken und Drehungen des Handlungsverlaufs irgendwo zwischen Thriller und Märchen tun ein Übriges, um die Anmutung von „rohem“, angriffigen Sozial- und Körperrealismus zu sabotieren. Diese Neuorientierung ist sympathisch – nach „Le Fils“ (2002) ist ohnehin kaum eine sinnvolle Steigerung der Dardenne’schen Bildhaptik denkbar – und auch folgerichtig – zugespitzte Parabeln ohne Genierer vor dem großen Dilemma waren auch die letzten vier Dardenne-Filme schon. Dass „Le Silence de Lorna“ mit der eigenen, trügerischen Gemachtheit nicht mehr hinterm Berg hält, ist Fluch wie Segen des Films: Die dramaturgischen Wendungen und Kippeffekte sind hier nicht einfach Gimmicks, sondern genuiner Ausdruck eines Dramas, das die Grenze zwischen Inszenierungen und Realitäten unsicher hält: Aus einer Scheinehe wird hier ein echtes Bündnis, dafür erweisen sich manche Fakten auf den zweiten Blick als Einbildungen. Weil aber weder Hauptdarstellerin Dobroshi noch die eher reservierten Bilder dieser Handlung auf Dauer emotionalen Halt geben können, verliert sich der Film in seiner zweiten Hälfte leider ein Stück weit ins Thesenhafte: ein Übergangswerk, möglicherweise.