Stimmen der Wahrheit
Nate Powell öffnet den Vorhang zu Zwangsneurosen, Schizophrenie und der bitteren Süße der Jugend. Pionierarbeit und majestätisches Werk.
Wahrheit und Wahrnehmung sind wohl nicht nur ob ihrer ersten Silbe verwandte Begriffe. Unsere Wahrnehmung schränkt ein, was wir als „wahr“ betrachten. Unser Sinn von „Wahrheit“ beeinflusst unsere Wahrnehmung. Wir lernen mit unserer Wahrnehmung zu leben, meist ohne es je bewusst hinterfragt zu haben. Gerade in Zeiten des Wandels möchten wir uns darauf verlassen, dass unsere Wahrnehmung uns nicht trügt. Ruth und ihr Bruder nehmen die Welt nicht so wahr, wie die meisten ihrer Schulkollegen und Freunde oder ihre Familie. Sie hören Stimmen, die sonst keiner hört; sehen, was sonst keiner zu sehen scheint. Ruth ist vielleicht sogar schizophren. Nate Powell taucht „Swallow Me Whole“ in die Bildsprache einer anderen Wirklichkeit, einer anderen Wahrnehmung. Zeit fließt unbeständig vor und zurück, Momente folgen aufeinander, doch ihr Abstand zueinander ist ungewiss, undefiniert. Es ist ein innerer Monolog des Lebens. Bilder und Muster tauchen auf, undiskriminiert ob ihrer „Wirklichkeit“. Die Umgebung verschwimmt zu einem Meer aus Impulsen, aus dem Einzelheiten wie verlorene Schwimmer oder gigantische Eisberge herauszuragen scheinen. An der Seite Ruths werden wir in den Wirbel ihres Lebens gezogen, zwischen Südstaaten-Moralität, einer sterbenden Großmutter, einer sich langsam auflösenden Familie und den Wirren der Pubertät. Den Halt, den sie zu verlieren glaubt, ersetzt sie durch zwanghaftes sortieren ihrer Sammlung konservierter Insekten. Bald schon weitet sich ihre Zwanghaftigkeit auf immer mehr Sachen aus. Eine Art schwüle Lethargie liegt in den ausdrucksstarken Bildern Powells und der Stimme seiner Protagonistin. Verborgene Muster scheint man in den feinen Linien zu erahnen, umrahmt von dramatischen schwarzen Flächen oder manchmal auch einem verräterischen Nichts aus Weiß. „Swallow Me Whole“ analysiert nicht, noch versucht es eine Erklärung für Ruths Leben anzubieten. Vielmehr bemüht sich Powell für uns mit „normaler“ Wahrnehmung einen kleinen Spalt in eine andere Wahrnehmung zu öffnen, ein wenig in eine andere Wirklichkeit einzutauchen, um vielleicht zu empfinden, warum nicht immer alles „klar“ und „wirklich“ ist. Um Ruths Großmutter zu paraphrasieren: Es empfiehlt sich den Stimmen im Kopf zuzuhören, denn sie verraten das „wahre“ Ich. Nur glauben sollte man ihnen nicht. Nate Powell erhielt für „Swallow Me Whole“ den Ignatz Award für „Outstanding Debut“.