Sylt

„Wichtig ist nicht was ich denke, sondern was du denkst!“

Kettcar gibt es ja nicht erst seit gestern. Kettcar, das ist die Geschichte eines Mannes, Marcus Wiebusch, die Geschichte eines Labels, Grand Hotel van Cleef, das aus der Notwendigkeit die eigenen Musik zu veröffentlichen gegründet wurde. Und Kettcar ist Geschichte – Musik, Text und gleichzeitig ein historisches Zeugnis einer Generation, die noch keinen Namen trägt.

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Ein französischer Vordenker proklamierte in den 70ern des vergangenen Jahrhunderts den Tod des Autors. Der Text ist nicht die Basis einer psychoanalytischen Interpretation, die Geschichte einer Person, Text ist Fiktion, ist Welt. Deswegen fährt die Frage /wie viel oder wie wenig Marcus Wiebusch ist Kettcar und umgekehrt/ von vornherein ins Leere. Und doch sind es seine Gedanken, seine Wörter und seine Sätze, die den Hörer umweben und in seinen Bann ziehen. Und bei „Sylt“ sind es die Fragen, die bleiben, ist es die Zerrissenheit, die entsteht, die interpretatorische Unzugänglichkeit der Songs. Das unterscheidet auch „Sylt“ von seinen Vorgängern. Bei „Du und wieviel von deinen Freunden“ stand das Individuum im Mittelpunkt, Situationen und Geschichten, die uns in die Träume verfolgen, bei „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“ war es die Realität, die sich mit dem eigenen Gefühlshorizont vermischte und bei „Sylt“ ist man in der Welt angekommen, dem großen Ganzen. Gesellschafts- und Systemkritik, sie steht jedenfalls im Mittelpunkt.

„Unser Ziel ist es, jeden Eskapismus abzulegen und die Themen unserer Zeit gnadenlos und düster beim Namen zu nennen,“ erzählt Marcus Wiebusch im Interview. Oft müsse er sich den Vorwurf anhören, zu viel Kompliziertes und Komplexes in den Popsong verpacken zu wollen.

Ob er nicht auch Bücher schreiben könnte? – Ja, zum Beispiel aus „Am Tisch“ hätte bestimmt auch eine passable Kurzgeschichte werden können. Am Anfang waren 200 Sätze von zwei Freunden, die durch ihren gesellschaftlichen Status getrennt werden. Der eine will es nicht war haben und aus dieser Nichtkommunikation resultiert der Bruch am Ende des Songs. „Und dann wird gestrichen, gestrichen und gestrichen, bis am Ende nur 12 Sätze über bleiben. Ich liebe das Format des Popsongs. Ich mag es, wenn in drei Minuten alles verdichtet zusammen kommt.“

Und auf den 12 Songs zu je drei Minuten kommt so einiges zusammen. Der Unwillen der Mid-Ager in einer Gesellschaft alt zu werden, in der Jugend und Sex alles zu sein scheint. Die Unfähigkeit Gutes so wie es ist wahrzunehmen. Neoliberalismus und eine Gesellschaft in Angst nach den gefallenen Türmen, die Zerrissenheit der Linken im neuen Jahrtausend, die Langeweile, die uns die Seele raubt und Erwachsene, die wieder zu Muttern ziehen. Kettcar hat Zeugnis abgelegt und gleichzeitig mitreißende Songs geschrieben. Es ist die Revolution, zu der man tanzen möchte.

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