Christoph Prenner bewegen bewegte Bilder. Diesmal widmet er sich dem Film »Die My Love« von Lynne Ramsay, in dem die Welt einer frischgebackenen Mutter aus den Fugen gerät.

»Don’t Look Back in Wehmut«, murmelt man leise vor sich hin, während man in den Socials durch die tägliche Springflut negativer Feels surft. Und man sich kurz dunkel daran erinnert, dass all das einst eine Bereicherung war statt einer toxischen Abhängigkeit. Bewundernswert, wer unter diesen sekundenlangen Spektakeln aus galoppierendem Wahnwitz und moralischer Verrohung heute noch einen klaren Verstand oder gar eine hoffnungsfreudige Wahrnehmung der Welt bewahren kann. Aber wenn eben nicht gerade mal die Zankbrüder von Oasis mit ein paar Arenashows zumindest eine Ahnung von kollektiven Freudenerlebnissen evozieren, wie sie längst nicht nur im Netz verschwunden zu sein scheinen, dann sind sie leider recht rar gesät: die echten Oasen im Alltag von 2025.
Wo man diese Momente der Leichtigkeit leider ebenfalls nicht mehr suchen sollte, das sind all die zahlreichen Portale, die sich eigentlich all things pop verschrieben haben. Denn auch dort springt einem nicht nur der ohnehin überall sonst schon vorherrschende Ragebait mit Aufschaukelungsabsicht entgegen, sondern mitunter gleich noch ein trauriger Rest dessen, was einmal kritische Auseinandersetzung mit Popkultur sein wollte. Statt dieser erwarten einen nun mit erheblicher Penetranz Teasertexte der Sorte: »Hundert Prozent auf Rotten Tomatoes: Das Thriller-Meisterwerk, das niemand kennt!« Oder: »Diese vergessene Serienperle hat den perfekten Score auf Rotten Tomatoes!«
Hundert Prozent
Während man noch überlegt, was da geheimniskrämerisch gemeint sein könnte – Spoiler: meistens etwas zurecht Übersehenes oder Untergegangenes –, ist man dem zynischen Spiel der Klickökonomie allerdings schon auf den Leim gegangen. Wobei zuvorderst ja ohnehin einmal die Frage erlaubt sein sollte, warum ausgerechnet der Review-Aggregator Rotten Tomatoes überhaupt noch als irgendeine Instanz für die Einordnung von Bewegtbildproduktionen gelten darf. Schließlich sind die Zweifel an der Seriosität dort hinterlegter Wertungen Legion – und die Zahlen ohnehin in etwa so belastbar wie Horoskope in zerknüllten U-Bahn-Blattln von vorgestern. Doch was, wenn dieser rezente Rettungsanker aus Algorithmusfetischisierung, übersichtlichen Daumen-rauf/runter-Einschätzungen und dem stillschweigenden Abkommen, so zu tun, als bedeute das alles noch irgendetwas, mittelbar eine ganze Sparte mit nach unten zieht? Es lässt sich zumindest nicht mit einem Wert von hundert Prozent ausschließen.
Im Gegensatz zum dysfunktionalen großen Ganzen ist das freilich ein Verdruss, dem sich hier ganz konkret entgegenwirken lässt: mit einem genaueren Blick auf ein Werk, das so aufregend anders ist, dass es vollkommen egal sein kann, ob es später mit Konsens gefeiert oder zu Content verarbeitet werden wird. Die Rede ist von »Die My Love« von Lynne Ramsay, einem weiteren unverwechselbar kraftvollen Eintrag in das Œuvre der schottischen Regisseurin, das besonders eindringliche Studien von Frauen am Rande des Zusammenbruchs (beängstigend ungut: »We Need to Talk About Kevin«) umfasst.

Ab aufs Land!
Auffällig idyllisch präsentiert sich dahingehend erst einmal das Setting dieses Films, der im Rahmen der Viennale seine Österreichpremiere feiern und ab dem 13. November regulär im Kino laufen wird. Nachdem Grace (Jennifer Lawrence) und ihr Partner Jackson (Robert Pattinson) aus New York in ein heruntergekommenes Landhaus übersiedelt sind, das er von seinem Onkel geerbt hat, steht noch alles im Zeichen aufgeregter Ausgelassenheit. Noch während der euphorisierten Einstiegsmontage wird Grace schwanger und bringt ein Kind zur Welt, um kurz darauf allerdings plötzlich wie ein Raubtier durchs hohe Gras zu kriechen, ein Messer in der Hand, wobei das Schreien des Neugeborenen aus dem Off zu hören ist. Was zur Hölle?
Dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, dämmert einem früh. Bei aller Liebe zu ihrem Sohn lassen Graces Verhaltensweisen auf eine akute postpartale Depression schließen: Ihre Blicke schweifen zwanghaft ins Leere, wie in Trance stillt sie ihr Kind oder schiebt den Kinderwagen durch die Landschaft. Auch die Beziehung zum überforderten oder schlicht abwesenden Jackson kühlt kontinuierlich ab. Mithilfe ihres kongenialen Kameramanns Seamus McGarvey führt Ramsay dieses Zerbrechen in Zeitlupe in einen beharrlich beunruhigenden Fiebertraum über. Grace reißt sich die Kleider vom Leib oder die Tapete von den Wänden, wandert nachts in den Wald hinaus und begegnet dort einem Pferd sowie einem mysteriösen Motorradfahrer. Geschieht all dies wirklich oder spielt es sich rein in ihrer Vorstellung ab? So oder so wird ihre Unruhe bald auch zu unserer.
Dabei weigert sich Ramsay beharrlich, Grace und ihr Verhalten zu erklären. Vielmehr errichtet sie ein Kino des reinen Fühlens: roh, widersprüchlich, fiebrig. Zeit und Realität zerfallen zusehends, Erinnerung, Fantasie und Gegenwart vermischen sich ununterscheidbar. Wie Grace selbst haben auch wir keine Idee, wohin diese Reise führt – ahnen aber zusehends, dass sie uns an Orte bringen könnte, an die wir ihr möglicherweise nicht mehr zu folgen imstande sind. Dass wir es dennoch so lange versuchen, liegt an Jennifer Lawrences wahrlich furchtloser Performance – so feinfühlig wie wild, von furioser Wut, aber auch von trockenem Witz getragen. Ein echtes Empfehlungsschreiben für ihren zweiten Oscar im kommenden März. Bis dahin wird man Lynne Ramsays »Die My Love« vermutlich auch nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Klickoptimiert hieße das: »Wenn du die meisten Filme mit einem Rotten-Tomatoes-Score von hundert Prozent schon längst wieder vergessen hast, wird dich dieses radikal empathische Psychodrama immer noch beschäftigen.«
Christoph Prenner plaudert mit Lillian Moschen im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Seriengeschehen. Unser Kolumnist ist per E-Mail unter prenner@thegap.at zu erreichen. Ein Archiv seiner Kolumne und der bisherigen Podcast-Episoden findet sich auch unter www.screenlights.at.