Christoph Prenner bewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber. Diesmal berichtet er von einem doppelten Statement in »The Substance«: einmal als grotesker Körperweltenexzess und einmal als radikaler feministischer Showdown.
Ja, sapperlot! Was steht da in der eben aufgepoppten Push-Notification, die mich vom Kolumnieren abhält? »Ich habe lange gebraucht, um 21 hinter mir zu lassen!« Hä? Worum geht’s bitte? Um hingehaltene Adoleszenzbewältigung? Oder ist der Algorithmus dem Aberglauben anheimgefallen und übt sich nun in zahlenmystischen Verrenkungen? Soll ich aus reiner Neugier draufdrücken? Oder macht das alles nur schlimmer – und mein feinjustiertes Internet ist dann komplett kaputt? Ach, wird schon nicht so wild sein … So let’s push the button!
Na, da schau her: In ein paar mageren Zeilen geht es um einen Autorennfahr-Seppl, der noch etwas aus dem Jahr 2021 aufzuarbeiten hat – nicht etwa einen Unfall, sondern, äh, einen Misserfolg. Schlimm, schlimm. Aber wie komme ich denn zu der Ehre dieser Brummbrumm-Banalität? Die Vermutung liegt nahe, dass es mit dem Trailer für den Formel-1-Film mit Brad Pitt zu tun hat, der im Sommer in die Kinos kommen wird … Den musste ich mir neulich tatsächlich dreimal ansehen, weil ich einfach nicht glauben konnte, wie irre langweilig ein Teaser sein kann, der für ein 300-Millionen-Dollar-Werk werben soll. Aber was soll’s, denn der Zahlenzufall stiftet auf verquere Weise sogar Sinn: Diese Kolumne ist nämlich auch die 21. ihrer Art!
Hinter Kolumnenkulissen
Wenn das kein charmant beiläufiger Anlass ist, einen topexklusiven Blick in den Maschinenraum der Fertigung dieses Formats zu werfen! In der Regel läuft es hier ja so ab: Der exzellent organisierte The-Gap-Chefredakteur teilt mir mit dem Erscheinen der aktuellen Ausgabe bereits meinen persönlichen Abgabetermin für die nächste mit – und wiegt mich so in trügerischer Sicherheit. So lang noch hin! Also: genügend Zeit für Themenfindung und Textausarbeitung, damit kann ich mich auch in ein paar Wochen noch beschäftigen. Doch selbige vergehen oft schneller, als einem lieb ist – und wenn nach dem Überziehen diverser Deadlines immer noch kein geschriebenes Wort in Sicht ist, macht sich in der Redaktionsstube zu Recht Nervosität breit.
Aber, aber: De facto wird es für Bewegtbildberichterstattende ja immer schwieriger, Produktionen Monate vor ihrem Start zu sichten. Hat man es nicht zu den einschlägigen Festivals geschafft, bleibt nur die Hoffnung auf früh angesetzte Presse-Screenings – und die ist oft vergeblich. Doch dank guter Geister auf Seiten der Filmverleihe hat sich auch in den prekärsten Situationen immer noch ein später Silberstreif auf der Leinwand aufgetan – so auch diesmal. Umgehend also die frohe Kunde an den Chefredakteur: »Doch noch ein Thema gefunden, ich bekomme ›The Statement‹ rechtzeitig zu sehen.« Erst nach dessen ratloser Antwort »Wir finden dazu keine Bilder«, fällt dann der Groschen beim Kolumnisten mit den bereits blank liegenden Nerven: Gemeint ist selbstverständlich der Film »The Substance« (Kinostart: 20. September).
Spritz dich jung!
Unbeabsichtigt zutreffender könnte mein Lapsus indes gar nicht sein: Denn die zweite Regiearbeit der Französin Coralie Fargeat (nach ihrem nachdrücklichen Vergewaltigungsvergeltungsthriller »Revenge«) ist in einer zusehends risikoaversen Gegenwartsfilmlandschaft wahrlich ein kraftvolles Statement – formuliert in grellen Signalfarben und extrafetten Lettern. Seit Cannes eilt »The Substance« dementsprechend ein überzeugend wilder Ruf voraus: Verstörte Schnappatmung und schockschrilles Auflachen wechselten sich bei der Weltpremiere dieser wahnwitzigen, hyperästhetisierten Mutation aus Body-Horror, Sci-Fi und Jugendwahnsatire ab, die sich erwiesen unzimperlich an einer delikaten Frage abarbeitet. Sie lautet: Was würdest du tun, wenn du mit einer Spritze eine neue Version von dir hervorbringen könntest – eine jüngere, schönere, bessere?
Vor der folgenschweren Versuchung, die klassische Affirmation »New year, new me« bis zur letzten Konsequenz auszureizen, steht eines Tages auch Hollywood-Star Elizabeth Sparkle (Demi Moore, never better). Kurz davor, von der chauvinistischen Unterhaltungsindustrie durch eine jüngere Kollegin ersetzt zu werden, bekommt sie von der titelgebenden Substanz Wind. Nach initialem Zögern lässt sie das experimentelle Prozedere aber schließlich über sich ergehen. Durch einen injizierten »Aktivator« wird die Bildung eines jüngeren Klons angeregt, anschließend müssen Original und Klon ohne Ausnahme alle sieben Tage die Rollen tauschen. Wer in einer bestimmten Woche im Einsatz ist, kann sich in der Welt bewegen, während die andere zu Hause im Koma liegt. »Ihr beide seid eins«, mahnt das Regelwerk. Aber was heißt das konkret? Es wird aus dieser Symbiose doch nicht etwa im schlechtesten Fall auch eine zwischenmenschliche Dynamik entstehen können, die der Volksmund mit »toxisch« umschreiben müsste? Beispielsweise dadurch, dass das frisch geschlüpfte Zweit-Ich (Margaret Qualley) mit erstmals entdeckter lust for life plötzlich ganz eigene Vorstellungen entwickelt – auf schmerzhafte Kosten des älteren Ichs? Oder?
Doch Coralie Fargeat geht es nicht nur darum, eine Variation von »Dorian Gray« durch David Cronenbergs von allerlei Körperflüssigkeiten verschmierte Linse einzufangen (obwohl das zuverlässig schockierend und unterhaltsam gelingt). Zusammen mit ihren beiden unerschrockenen Hauptdarstellerinnen geht sie noch einen entscheidenden Schritt weiter – und implantiert ihrem grotesken Körperweltenexzess eine unmissverständlich feministische Perspektive. Spätestens im radikalen Showdown wird das Monster in uns allen, das jenen unmöglichen Druck aufrechterhält, der auf Frauen stets in Bezug auf Aussehen und Altern lastet, zur Kenntlichkeit entstellt. Und man kommt nicht umhin, sich zu fragen: Könnte es sein, dass es nicht das Fleisch ist, das hier außer Kontrolle geraten ist, sondern der Geist, der uns dazu treibt, uns selbst und anderen so etwas anzutun? Ja, sapperlot!
»The Substance« feiert am 19. September 2024 seine Österreichpremiere als Eröffnungsfilm des Slash Filmfestivals. Am 20. September startet er regulär in den heimischen Kinos.
Christoph Prenner plaudert mit Lillian Moschen im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Seriengeschehen. Unser Kolumnist ist per E-Mail unter prenner@thegap.at zu erreichen bzw. auf X (vormals Twitter) unter @prennero zu finden.