Selbstverständnis ohne Tradition

Was bedeutet es, jüdisch zu sein? Comics suchen seit den 30er Jahren immer wieder Antworten. Vier zeitgenössische Künstler stehen exemplarisch dafür.

Harvey Pekar

Judentum war in Harvey Pekars Arbeiten zuvor nie besonders vordergründig, noch weniger seine Einstellung gegenüber dem Staat Israel. Im posthum veröffentlichten "Not The Israel My Parents Promised Me" ändert er das. Erst kurz vor seinem Tod stellte der mürrische alte Mann der Comics-Welt das Werk mit Illustrator JT Waldman fertig. Pekar wuchs als Sohn zionistischer Eltern auf. Seine marxistische Mutter betrachtete Israel aus politischer Sicht als unabdingbar und als Emanzipation der Juden. Für Pekars religiösen Vater hingegen war Israel nichts anderes als die vorausgesagte Rückkehr der Juden in ihre ursprüngliche Heimat. Ähnlich wie für Glidden gab es für den heranwachsenden Pekar die "Israel-Frage" nicht. Erst später fand er immer mehr über die Widersprüche des israelischen Staates heraus. Diese bilden auch den Kern von "Not The Israel My Parents Promised Me". Auch wenn sich ein Großteil des Comics mit der Geschichte der Juden und des modernen Staates Israel beschäftigt, der wirkliche Knackpunkt kommt an anderer Stelle. Pekar berichtet von einem Artikel für eine Zeitung, den er 1978 schrieb, in dem er eine kritische Haltung gegenüber jüdischem Nationalismus einnimmt. Und dem darauf folgenden Leserbrief, der ihn mehr oder weniger als Verräter bezeichnet. Pekar hadert mit dieser, wie er meint, weit verbreiteten Positionen unter Juden, dass Kritik an der in Israel betriebenen Politik gleichzusetzen wäre mit genereller Abwendung vom Judentum. Hierin steckt, was jüdisch sein für ihn bedeutet: Er möchte sein Judentum selbst definieren und nicht einen großen Block an Wertevorstellungen ungefragt schlucken müssen, um akzeptiert zu werden.

Miriam Katin

Wenn auch in erster Linie kein kritischer Blick auf das Judentum, so schwingt in "We Are On Our Own" immer die Frage nach dem Warum mit. Miriam Katin wurde 1942 in Ungarn geboren. Ihre Mutter floh mit ihr aus Budapest, als die Nazis einmarschierten. Ihre jüngsten Jahre wurden von Flucht, Verlustangst, Armut und anhaltender Bedrohung durch Nazis geprägt. Katin wirkt unversöhnlich mit dem Umstand, dass sie und ihre Familie Opfer der Shoah wurden. Im Subtext sucht sie nach einem Grund. Es ist schwierige, emotional mitnehmende Lektüre und es muss noch viel aufreibender gewesen sein, sie zu erschaffen. Anhand von alten Fotografien, tiefgehender Recherche und ihren eigenen Erinnerungen schreitet Katin in den Seiten von "We Are On Our Own" Schritt für Schritt durch diese illustrierte Auto-Psychotherapie. Erst mit "Letting It Go", das sieben Jahre nach "We Are On Our Own" veröffentlicht wurde, schließt sie so etwas wie Frieden mit dieser unbeantwortbaren Frage. In einer fiktiven Geschichte, angelehnt an ihr eigenes Leben, entwirrt sie ihre inneren Konflikte. Sie verabschiedet sich vom Bild der Jüdin als Opfer. Diese interne Zeitreise bringt sie in die Realität einer Gegenwart, in der andere Probleme zu bewältigen sind. Sanft und vorsichtig gleitet sie zwischen impressionistischen Darstellungen, die zugleich ihre Gefühlswelt widerspiegeln, und erzählerischen Schlüsselmomenten. Sukzessive taucht sie dabei Stück für Stück aus dem Ballast ihrer unverdauten Sorgen hervor.

"Was bedeutet es, jüdisch zu sein?"

Selbstverständlich lässt sich die Frage nicht übergreifend beantworten, sondern bleibt eine höchst subjektive Position. Für diese und andere Künstler, denen es schwerfällt, zu einer eigenen Position zu gelangen, finden sich im Comic die richtigen Forschungswerkzeuge. In diesem Medium können sie frei zwischen höchster Emotionalität und Rationalisierung, Faktischem und Fantastischen wählen. Auf individuellste Art und Weise kommunizieren sie so mit sich selbst, aber auch mit ihren Lesern. Zwischen ihren unterschiedlichen Zugängen, Stilen und Strichen verbindet sie das redliche Bemühen um eine kritische Haltung. Sie ringen mit ihren eigenen Vorurteilen und versuchen Erwartungshaltungen abzulegen, um selbst zu einem positiven, konstruktiven Verständnis eines modernen Judentums zu gelangen. Viele Juden halten gerade das, dieses Ringen um Erkenntnis, für den wahren Kern des Judentums.

Leseliste zur Vertiefung:

Harvey Pekar – »Not The Israel My Parents Promised Me« (2012, Hill and Wang)

Pekar erzählt die Geschichte der Juden und Israels als seinen persönlichen Diskurs. Eindringliche Kritik und biografische Stellungnahme.

Miriam Katin – »We Are On Our Own« (2006, Drawn & Quarterly), »Letting It Go« (2013, Drawn & Quarterly)

Zwei der berührendsten biografischen Graphic Novels zur Shoah und ihrer Aufarbeitung. Höchst emotional und äußerst intelligent.

Rutu Modan – »Exit Wounds« (2007, Drawn & Quarterly), »The Property« (2013, Drawn & Quarterly)

Jüdisches Sein, untersucht in zwischenmenschlichen Details. Rutu Modan findet die Praxis des Politischen im Alltag ihrer Charaktere.

Sarah Glidden – »How To Understand Israel In 60 Days Or Less« (2010, DC Vertigo)

Formelle Recherche-Reise wird zu persönlicher Transformation für junge US-amerikanische Jüdin. Aus Schwarz-Weiß wird ein volles Spektrum.

JT Waldman – »Megillat Esther« (2005, The Jewish Publication Society)

Grafische Neuinterpretation des Buch Esther des Tanach (Altes Testament). Zugleich eindringliche Auseinandersetzung mit modernem Judentum.

Actus Tragicus / Projekt Cargo – »Cargo« (2005, Avant Verlag)

Reiseberichte aus Tel Aviv und Berlin, mal aus dem Blickwinkel der Deutschen in Israel, mal andersrum. Aktiver Dialog in Bildern.

James Sturm – »The Golem’s Mighty Swing« (2001, Drawn & Quarterly)

Jüdische Minor League Baseball-Mannschaft in den USA der 1920er erlebt Anti-Semitismus und Fremdenhass. Exzellentes historisches Drama.

Leela Corman – »Unterzakhn« (2012, Schocken/Pantheon)

Zwei Schwestern wachsen in New Yorks Lower East Side des frühen 20. Jahrhunderts auf. Ihre Wege führen in unterschiedliche Richtungen.

Art Spiegelman – »Maus« (1991, Pantheon)

Spiegelmans Meisterwerk. Die Geschichte seines Vaters als polnischer Jude und Holocaust-Überlebender. Essentielle Lektüre.

Bild(er) © Drawn & Quarterly, DC Vertigo, Hill and Wang
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