Im Zweifel für die Angeklagte

Lady Gaga war in der Stadt. Noch nie waren bedingungslose Liebe und Face Palm so nahe beisammen wie dort im Geburtskanal.

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Zwei Polizisten im Nipster-Look, die sich genüsslich einen Hotdog ins Gesicht stellen und im Foyer der Stadthalle herumgrinsen. Handelt es sich um verkleidete Zivilisten, Stripper oder um echte Polizei – man weiß es nicht, immerhin ist das hier ein Lady Gaga Konzert. Viel zu tun hatten die netten Herren und Damen in Uniform wahrscheinlich sowieso nicht, erstens war eine relativ überschaubare Menge an Menschen in die Stadthalle gepilgert, zweitens sollte Lady Gaga den Job, Menschen anzuschreien, dass sie ihre "mutterfickenden Hände in die Höh’" nehmen sollen, bald selbst übernehmen. Einstweilen tobte ein EDM-Wüterich in Jogging-Hose über die Bühne und heizte schon mal vor. Danach kam Lady Starlight, wahrscheinlich von irgendeiner Ernte – Glamour schaut jedenfalls anders aus – und einen Tanzstil an den Tag legte, als müsste sie sich noch immer die Ungeziefer vom Körper schütteln.

Geburtskanal

Es hörte lange nicht auf und war sehr laut. Danach fegte der ohrenbetäubendeste Trap vom Band über die Köpfe hinweg, gefolgt vom lautesten EDM. Aber für Gaga nimmt man das in Kauf. Irgendwann nach viel zu langer Zeit fiel dann der weiße Ausverkaufs-Glitzer-Vorhang zu Boden und gab den Blick auf eine Bühne frei, die sich zwischen dem Papp–Imitat einer nordafrikanischer Stadt und einem Geburtskanal nicht so recht entscheiden konnte. Die Elemente der Bühne zogen sich dann laufstegartig in den nicht ganz gefüllten Publikumsraum. Eines davon mündete in einer Art Arielle-Gedächtnis-Klavierthron, der entweder direkt aus Atlantis oder aus einer Dorfdisko, die den Namen "Blue Blizzard" trägt, geborgen wurde. Endlich Gaga. Da fuhr sie aus dem Boden, gab zuerst ein paar Nummern vom jüngsten Album "Artpop" zum Besten und stimmte dann völlig unerwartet das Cabaret-Lied a cappella an, was zwar gesangstechnisch geradezu göttlich war, aber halt skurril wie nichts.

Cover-Höhepunkt

Dann ging es mit "Poker Face", "Paparazzi" und "Do What You Want" weiter und plötzlich war alles eine einzige Großartigkeit, die ihren Höhepunkt erreichte als Gaga "What’s Up" coverte. Sogar auf den Rängen erhob sich die ein oder andere Hand und man stimmte ein. Das ist natürlich schön, aber auch traurig. Wenn die Stimmung dann kocht, wenn jemand, der bis vor kurzer Zeit noch um die Madonna-Nachfolge im Rennen war, ein Cover singt und nicht einen seiner eigenen Songs – naja, gute Zeichen sehen anders aus. Gaga kommentierte mit: "So, jetzt spiele ich einen schlechteren Song", und es klang aus ihrem Mund leider nicht wie ein Witz. Das Arielle-Klavier wurde bestiegen und es folgte "Dope" und darauf eine wundervoll abgespeckte, absolut famose Version von "You and I". Für "Born This Way", moderne Hymne der Gleichberechtigung, durften dann auch zwei Fans die Bühne erklimmen und ihren Star kennenlernen, was schon herzig war. Dann wieder mehr Bewegung "Judas", "Aura", "Bad Romance" und ein "Applause"-Finale. Zugaben auch.

So, wie finden wir das jetzt?

Gesanglich war das alles natürlich der Wahnsinn – Gaga war fit, sicher, traf jeden Ton ohne langweilig zu sein, eigentlich ein Traum. Dabei hatte man immer das Gefühl, dass die Frau locker noch drei Stunden weitermachen könnte. Auch die Tänzer, die Band und die Kostüme – die ganze Performance war solide.

Gaga selbst changierte dabei aber zwischen einem Kreuzfahrt-Animateur auf Koks, der emotionalen Kämpferin für Kunst, die zwischendurch immer wieder mal recht strange Monologe einlegte, dem Scheiß-drauf-Pop-Punk und der Diva. Da wurden Stofftiere getreten und gestreichelt, Spritzwein über die Fans geleert und ab und zu wusste man wirklich nicht, ob sie sich jetzt einfach umdreht und geht, oder das Ganze sonstwie schrecklich eskaliert. Noch nie war der Face Palm so nah an echter Liebe, Bewunderung und Verwunderung nur hauchdünn getrennt. Lady Gaga ist eine großartige Sängerin, das hat sie gestern nicht nur einmal bewiesen – ihre Karriere hat sie aber auf einer Kunstfigur aufgebaut, die sich nun langsam schwertut, sich selbst immer wieder zu toppen. Dass das Ganze gestern natürlich trotzdem ein Spektakel und emotionaler Rave obendrein war, zeigt nur, dass sie den so oft besungenen Fame noch immer verdient.

Die Fotos stammen von einer Show in den USA, entsprechen aber der Wahrheit. Gestern war es Fotografen leider nicht erlaubt Fotos zu machen.

Bild(er) © Kevin Mazur / WireImage
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