Tausende Selbstständige machen im Netz gegen die existenzgefährdenden Ungerechtigkeiten im Sozialversicherungssystem mobil. Gehört die SVA zerschlagen? Wie lässt sich ein offensichtlich überholtes System für alle Betroffenen fair und zeitgemäß umgestalten?
»Sozialversicherung nicht für alle sozial«
Das Bild des Unternehmers hat sich verändert: Führte der Selbstständige früher einen Betrieb, in dem er Arbeiter beschäftigte, so ist er heute in der Regel Alleinunternehmer – der Betrieb ist er selbst. Fällt der klassische Unternehmer krankheitsbedingt aus, so läuft der Betrieb dank der Angestellten weiter. Fällt ein Alleinunternehmer aus, steht der ganze Betrieb. Er ist dann nicht nur krank, sondern kommt in Geldnot. Alleinunternehmer gehören im Krankheitsfall geschützt; die Politik hat dafür noch nicht genug getan. Derzeit bekommen nur Arbeitnehmer Krankengeld – Selbstständige müssen sich dafür zusätzlich versichern. Überspitzt formuliert: Der angestellte Top-Manager ist abgesichert, der selbstständige, prekär lebende Friseur nicht. Dabei sollte eine Sozialversicherung für alle sozial sein. Benedikt Narodoslawsky, 27, ist Redakteur und selbst SVA-Versicherter. Seine Coverstory für das Monatsmagazin /Datum/ war ein maßgeblicher Impuls der Protestbewegung gegen die SVA. Ein ausführliches Interview mit Naradoslawsky gibt es auf www.thegap.at.
»Politik muss Rahmenbedingungen ändern«
60 Prozent der SVA-Versicherten zahlen von der Mindestbeitragsgrundlage Sozialversicherung. Das führt dazu, dass Kleinstverdiener höhere SV-Beiträge zahlen müssen als Gutverdienende. So muss beispielsweise jemand, der monatlich 600 Euro verdient, 33 Prozent (200 Euro) Sozialversicherung bezahlen, jemand der im Monat 10.000 Euro verdient nur 12 Prozent. Die Versicherungsbeiträge sind also wenig sozial gestaltet. Im Sinne der Fairness muss die Mindestbeitragsgrundlage gänzlich abgeschafft werden. Auch dass Selbständige 20 Prozent der Arztkosten zahlen, die durchschnittlich deutlich besser verdienenden Angestellten aber nicht, ist ungerecht und unzeitgemäß. Historisch mag es gerechtfertigt gewesen sein, den »reichen Unternehmern« einen Selbstbehalt zu verrechnen, die aktuelle Einkommenssituation der Mehrheit der Selbstständigen rechtfertigt das allerdings keineswegs mehr. Eine wirkliche Verbesserung für armutsgefährdete Selbstständige wäre eine Lösung ähnlich der Einkommenssteuer: die ersten 11.000 Euro gänzlich beitragsfrei zu stellen und trotzdem eine medizinische Grundversorgung zu gewähren. Polizei und Feuerwehr darf schließlich auch jeder Bürger anrufen, selbst wenn er oder sie keine Einkommensteuer bezahlt. Gäbe es eine solche Lösung, müsste die SVA auch nicht die Beiträge von rund 10 Prozent der Versicherten (ca. 33.000) per Exekution bzw. Ratenzahlungen eintreiben. Man muss sich vor Augen halten, dass wenn Selbständige – überspitzt formuliert – bevor sie Nahrung für ihre Kinder kaufen können, SVA-Beiträge bezahlen müssen, das vermeintliche soziale Netz zum Armutstreiber wird. Denn durch Mahnspesen und Gerichtsgebühren wird alles noch teurer und es bildet sich eine Abwärtsspirale. Die SVA muss nach den bestehenden Gesetzen agieren. Diese gehören geändert! Wenn die Mehrheit der Selbstständigen von ihrer Arbeit nicht leben kann, dann ist die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Martina Schubert, 46, ist Autorin des Buchs »Ausreichend verdienen im Ein-Personen-Unternehmen« und Geschäftsführerin des FO.FO.S – Forum zur Förderung der Selbständigkeit. www.fofos.at
»Höchstverdiener aus der Solidarität entlassen«
Die derzeitige SVA-Debatte ist die Kehrseite des Rückgangs des Normalarbeitsverhältnisses und der damit verbundenen Gründerwelle, die viele Klein- und Kleinstunternehmer hervorgebracht hat. Diese sehen weniger den durch die Sozialversicherung vermittelten Schutz, der ja zumeist erwünscht ist, als Problem, sondern die Beitragspflicht, die rund 27 Prozent des Einkommens ausmacht. Verschärfend kommt gerade am Beginn der Selbstständigkeit dazu, dass die Abgaben häufig erst im Nachhinein bezahlt werden und dies – kombiniert mit der Vorschreibung für das laufende Jahr – die finanzielle Leistungsfähigkeit oft übersteigt. Das ist ein Problem der Kostenplanung, das der SVA nicht vorgeworfen werden kann. Setzt man am Grundsätzlichen an, so geht es um die Frage, von wem und wie soziale Absicherung finanziert werden soll. Im Wesentlichen kann zwischen steuer- oder beitragsfinanzierten Systemen unterschieden werden. Österreich ist zweiteren Weg gegangen, wobei der Unterschied neben den höheren Geldleistungen für den Einzelnen sowie der stärkeren Individualisierung von Beitrag und Leistung vor allem in der Höchstbeitragsgrundlage liegt – vom darüber liegenden Einkommen werden keine Beiträge mehr bezahlt. Damit sinkt die Abgabenquote ab dieser Grenze für höhere Einkommen, die so aus der Solidarität mit den Geringerverdienenden entlassen werden. Gerade für die Krankenversicherung ist fraglich, wie lange diese noch aufrecht erhalten werden kann. Martin Risak, 41, ist am Wiener Juridicum Professor für Arbeits- und Sozialrecht sowie Autor und Schriftleiter der Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht (ZAS)
»SVA muss Dienstleister werden«
Ich habe großes Verständnis für die oft schwierige Situation unserer Versicherten, den Selbstständigen. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten haben wir vielen unserer Versicherten z.B. durch Stundung ihrer Versichertenprämie helfen können. Mir ist es wichtig, die Anliegen ernst zu nehmen, alle Vorwürfe zu analysieren und als SVA in einen konstruktiven Dialog mit unseren Versicherten zu treten. In den letzten Jahren haben Wirtschaftskammer und SVA viel erreicht um das Versicherungssystem für Selbstständige zu verbessern und die Beiträge möglichst zu senken. So wurde 2005 der Mindestbeitrag der Krankenversicherung halbiert und beträgt nun 1,50 Euro pro Tag, 2008 konnten alle Beiträge um 15 Prozent gesenkt werden. Bei geringen Einkünften ist auch für Gewerbetreibende die Ausnahme von der Pflichtversicherung möglich. Selbstständige behalten die Ansprüche auf Arbeitslosengeld von einer früheren unselbständigen Tätigkeit oder haben die Möglichkeit, eine Arbeitslosenversicherung und eine Zusatzversicherung für den Krankheitsfall abzuschließen. Auch eine Beitragsreduktion bei Umsatzrückgängen kann erwirkt werden. All das sind Entwicklungen der letzten Monate und Jahre und die nächsten Schritte sind schon in Verhandlung – etwa Verbesserungen beim Wochengeld-Bezug, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern. Unserer Ansicht nach gibt es noch einige Situationen, wo Handlungsbedarf besteht und wo wir versuchen, das Sozialministerium und den Gesetzgeber zu überzeugen. Dann nämlich, wenn Versicherte bei langer Krankheit ausfallen. Der Staat springt in solchen Fällen bei Arbeitnehmern ein, gerade hier bedarf es auch für Selbstständige unterstützende Absicherungsmaßnahmen. Das haben SVA und Wirtschaftskammer beim Sozialministerium bereits eingefordert, bisher allerdings – in dieser Sache – erfolglos. Modernisierungen, Verbesserungen und Weiterentwicklungen finden in der SVA laufend statt, denn auch die Unternehmerschaft ist in einem ständigen Wandel. Man darf aber nicht vergessen, dass den Rahmen der Gesetzgeber vorgibt. Wir bringen uns immer wieder mit Verbesserungen ein und die SVA beschreitet immer stärker einen Weg vom Amt zum Dienstleister. Peter McDonald, 38, ist stellvertretender Obmann der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (SVA).
Selbstständig zu sein ist heutzutage nicht einfach. Die SVA zu sein aber auch nicht. In Österreich gibt es über 300.000 Personen, die ausschließlich selbstständig tätig sind. Versichert sind sie bei der SVA (Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft) und die gerät zunehmend in Kritik. Vor allem der Vorwurf, die Sozialversicherung sei alles andere als sozial, zieht sich quer durch die Medien. Betrachtet man, dass alleine 2010 über 10 Prozent der SVA-Versicherten, das sind immerhin über 30.000 Personen, Besuch vom Exekutor bekamen, weil sie ihre Beiträge nicht zahlen konnten, wird dies verständlich.
Mittlerweile haben sich auf Facebook und anderen sozialen Netzwerken tausende Menschen gefunden, um lautstark gegen die Ungerechtigkeiten im System und die SVA zu protestieren. Angeprangert werden vor allem unsoziale Beitragsforderungen von Kleinstverdienern, die prozentuell mehr von ihrem Einkommen an die SVA geben müssen als die 15 Prozent der Höchstverdiener sowie das unübersichtliche Voraus- und Nachzahlungssystem und die unzureichende Absicherung im Falle langfristiger Krankheiten und Arbeitslosigkeit.
All diese Probleme gehören definitiv gelöst, Protest ist angebracht. In der Kritik steht die SVA. Viele Betroffene sehen in ihr den ungerechten Eintreiber, der sie an den Rand der Existenznot drängt. Dass die SVA selbst aber »nur« ein ausführendes Organ ist und durch die Gesetzgebung im Sozialversicherungsrecht in ihrem Handeln nur wenig Spielraum hat, das wird in diesen durchaus emotional geführten Protesten übersehen oder vergessen.
Wirklich gefordert ist die Politik, die bisweilen nur zugesehen und/ oder ignoriert hat, wie es um die Lage der heimischen Selbstständigen eigentlich steht. Sie gibt die Spielregeln für das Sozialversicherungssystem vor und die sind momentan – wie so vieles in diesem Land – reformbedürftig und alles andere als sozial.