Straßenkinder und Penisse auf Facebook

Man kann darüber Schimpfen, dass Street Art dem Diskurs geweiht ist. Oder man kann durch Timo Schaals neuen Bildband blättern und sich eingestehen, dass Kunst im öffentlichen Raum sowieso was für jedermann ist.

Mittlerweile wird Street Art laufend in Galerien ausgestellt und peppt Events von Energy Drinks und Eventbrauereien auf. Dabei sollte sie doch genau dort nicht enden: Welche Vor,- und Nachteile bringt die Kommerzialisierung mit sich?

Es gibt Künstler, die in Galerien ausstellen oder Auftragsarbeiten für einen Lohn annehmen. Es gibt auch viele, die das ablehnen. Ich finde, das muss jeder für sich entscheiden. Ich habe vollstes Verständnis, wenn jemand versucht, mit seiner Kunst seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die wenigsten Aktiven, die ich kenne, verdienen wirklich Geld mit ihrer Arbeit, sondern leisten sich eher ein teures Hobby aufgrund der anfallenden Kosten. Jeder Künstler sollte das Recht haben, für sich zu entscheiden, was er mit seiner Kunst machen will. Was davon dann noch als Street Art zu bezeichnen ist, bleibt jedem Betrachter für sich überlassen.

Wie gut kann man als Street Art Künstler heute leben?

Je nachdem was unter "gut leben" verstanden wird. Die Möglichkeit, seine Arbeiten in der Öffentlichkeit zeigen zu können, auch wenn sich keine Galerie dafür zu interessieren scheint, ist für eine Künstlerseele erst mal eine großartige Sache. Meiner Einschätzung nach verdienen nicht sehr viele Street Art-Künstler wirklich Geld mit ihrer Arbeit und wollen das auch gar nicht. Andere wie Banksy sind sicherlich ganz gut im Geschäft. Wie gut oder schlecht sich ein Street Art Künstler verkaufen kann ist mir aber relativ egal, für mich zählt sein Output.

Deine Facebook-Page "Streetart in Germany" hat bereits 900.000 Fans. Dementsprechend müssen dir auch viele Sprayer ihre Fotos einschicken. Nach welchen Kriterien wählst du aus? Was geht nicht?

Ich bekomme im Schnitt etwa 400 Fotos am Tag. Manche kommen direkt von den Künstlern, die meisten aber von Passanten. Motive die ich schon mehrfach hatte oder die meiner Meinung nach nichts mit Street Art zu tun haben, soritere ich aus. Mittlerweile muss ich aber auch Motive, die Nacktheit in irgendeiner Form enthalten, aussortieren, weil meine Seite sonst eine Sperre bekommt. Dass auf der weltweit größen Plattform Kunst nur noch im Korsett der Moralvorstellungen betrachtet werden kann, sehe ich als großes Problem an: Selbst ein Weltkulturerbe wie der berühmte "David" von Michelangelo darf aufgrund seines sichtbaren Penis nicht auf Facebook gezeigt werden. Daher kann ich im Internet nur eine Ahnung von Street Art übermitteln. Deren Bedeutung liegt im öffentlichen Raum.

Du thematisierst nicht nur klassische Street Art, sondern auch "die freie Interpretation von urbanen Alltagsgegenständen". Entstehen solche Arbeiten spontan oder gibt es auch dafür schon eine Szene?

Es gibt zig Gründe, warum Menschen in den öffentlichen Raum eingreifen: Manche wollen eine Botschaft unters Volk bringen, andere wollen einfach ihre Umgebung verschönern. Für mich setzt sich die Szene aus unterschiedlichsten Aspekten zusammen. Ich vergleiche das gerne mit der Musik. Deren Untergruppierung durch Genres lässt sich auch auf die Street Art Szene übertragen. Ich versuche, einen möglichst breiten Schnitt durch die gesamte Bewegung zu zeigen und überlasse den Followern, was sie gut finden und weiterverbreiten.

Was ist das innovativste Freiluftkunstwerk das du je abgelichtet hast?

Am besten gefällt mir, wenn frische, eigene Ideen klug umgesetzt werden: Die Legobrücke von Megx hat mich zum Beispiel sehr fasziniert. Wenn ich nach Wien komme, hoffe ich noch ein Foto von dem berühmten "One Frog a day keeps the doctor away" von Manuel Murel am Donaukanal machen zu können. Das ist auch das Motiv aus Österreich, das mir im Lauf der letzten Jahre mit Abstand am häufigsten zugeschickt wurde.

Timo Schaal, seit 2002 freier Künstler, Fotograf, DJ und Maler- ist Betreiber der Facebook-Seite "StreetArt in Germany". Sein gleichnamiger Bildband zeigt ausgewählte Kunstwerke erstmals in Print und erscheint am 11. September beim Riva Verlag. Hier kann man sich ein Exemplar bestellen.

Bild(er) © ©Timo Schaal 
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