Nach 55 Jahren veröffentlicht Autorin Harper Lee den Nachfolger zu ihrem Erfolgsroman "To Kill A Mockingbird". Warum "Go Set A Watchman" zwar eher trivial aber trotzdem relevant und zeitgemäss ist.
„Es soll nicht so gut sein wie das erste“, sagen sie. „Angeblich ist es die Fortsetzung, aber es ergibt überhaupt keinen Sinn“, sagen sie. „Sie hätte es einfach bei To Kill a Mockingbird belassen sollen. Wieviel Geld will sie denn noch damit verdienen?“ Und so weiter. Ja, leicht macht es einem Harper Lee nicht, wenn sie 55 Jahre nach Erscheinen ihres Weltbestsellers ein weiteres Buch herausbringt, das zu allem Überfluss einen der meistgefeierten Helden der Literatur geradezu abschlachtet. Enttäuschte Kritiker schenkten der mittlerweile 89-jährigen Autorin in den letzten Wochen nichts. Der neue Roman „Go Set a Watchman“ sei Trivialliteratur hieß es in Rezensionen und könnte „Mockingbird“ nicht das Wasser reichen. Aber muss er denn das?
Recap: „Mockingbird“ dreht sich um den Strafverteidiger Atticus Finch, dessen Geschichte aus dem Blickwinkel seiner sechsjährigen Tochter, genannt Scout, erzählt wird. Ihm wird der Fall des Schwarzen Tom Robinson übergeben, der zu Unrecht beschuldigt wird, eine weiße Frau vergewaltigt zu haben. Finch übernimmt das Mandat trotz der gesellschaftlicher Ächtung, die damit im Alabama der 1930er einherging und stellt sich sogar einem wütenden Mob entgegen, der gekommen ist, um Robinson in seiner Zelle zu lynchen. Generationen von Lesern wurde er als moralisches Vorbild vorgesetzt und als Beispiel dafür, wie viel Unterschied der Einzelne im Kampf gegen Ungerechtigkeit ausrichten kann.
Falsches Heldenbild
Vielleicht ist es dem Umstand geschuldet, dass der Leser Atticus Finch durch die Augen seiner Tochter sieht, dass kaum bemerkt wurde, dass nicht einmal die Figur selbst diesem Heldenbild gerecht wird. „Mockingbird“ ist ein Coming-of-Age-Roman, der glaubhaft schildert, wie der unheimliche Nachbar Boo Radley für die kleine Scout eine größere Gefahr zu sein scheint, als eine Stadt voller Rassisten, die ihre Mistgabeln polierend nur darauf wartet, einem Unschuldigen den Garaus zu machen. So überliest man schon leicht einmal die Stellen, an denen Atticus nicht ganz so heroisch ist, wie es ihm nachgesagt wird. Eigentlich hat er das Mandat für Robinson nicht freiwillig übernommen und die Zusammenrottung der örtlichen Lynchjustiz nennt er „im Grunde gute Männer“ und auch die Verharmlosung des Ku Klux Klans findet ihr Plätzchen in seinen Erklärungen an seine Kinder.
Hätte man nun all dem mehr Beachtung geschenkt, wäre der Schock, den „Watchman“ nun ausgelöst hat, kaum so groß gewesen. Nachdem wir nun 55 Jahre lang geglaubt haben, dass Atticus der bessere Mensch ist, der wir erst noch werden müssen, muss Scout im Alter von 26 erfahren, dass ihr Vater und auch ihr Freund Mitglieder eines weißen Bürgerrates sind, der de facto existiert, um der NAACP (National Association for the Advancement of Coloured People) in ihrem Kampf für Gleichberechtigung, Einhalt zu gebieten. Auf einmal schwingt er Reden gegen das Wahlrecht für Schwarze und gleiche Bildungschancen und wir alle nur so: „Whoat?!“
Aufgewacht in einer nicht idealen Welt
Gemeinsam mit Scout wachen wir also als Erwachsene auf, in einer Welt, die nicht ideal ist, in der auch Atticus Finch nicht perfekt ist und in der oben am alten Badesee, wo Scout als Kind immer schwimmen war, plötzlich ein Hobelwerk steht. Aber nicht nur das, auch der gruselige Boo Radley ist verschwunden, Scout küsst auf der ersten Seite den falschen Mann und die wahre Bedrohung ihres Wertsystems sitzt plötzlich auf Papas Fernsehsessel. Irgendwie wurden wir ja schon um unseren Helden betrogen, den einzig seine Schöpferin in seinem innersten Wesen kannte.