Wiens Musikszene sowie die Stadt jenseits des Postkartenidylls stehen in Philipp Jedickes Dokumentarfilm »Vienna Calling« im Fokus.
Dass österreichische Musik leiwand ist, brauchen wir nicht extra zu betonen – treue The-Gap-Leser*innen wissen das natürlich. Einer, der das ebenso weiß, hat österreichischen Acts sowie den alternativen Musikorten der Stadt nun ein filmisches Denkmal gesetzt: Philipp Jedicke ist Journalist und Filmemacher – und selbst Fan von diversen österreichischen Musiker*innen und Bands. Für seine Dokumentation »Vienna Calling« hat er diese vor die Kamera geholt. The Gap sprach mit ihm über seine Faszination für Musik made in Austria, den Unterschied zur deutschen Musikszene, seine filmische Hommage an Wien sowie seine Lieblingsorte in der Stadt.
Du bist Journalist und Filmemacher in Deutschland. Warum hast du nun einen Film gerade über die österreichische – und nicht etwa die deutsche – Musikszene gedreht?
Philipp Jedicke: Ich war nach langer Zeit 2015 das erste Mal wieder in Wien und habe nach einem Wanda-Konzert in der Arena eine rauschhafte Nacht mit einer Gruppe Wiener*innen erlebt. Damals habe ich eine unglaubliche Aufbruchstimmung in der Stadt gespürt. Ich hatte das Gefühl, dass überall Musik war. Das hat mich regelrecht verzaubert. In den Tagen und Wochen danach bin ich immer tiefer in das Thema eingestiegen – bis daraus ein Film wurde.
Wie bist du mit aktueller österreichischer Musik in Berührung gekommen?
Das Interesse dafür hatte ich eigentlich schon immer. Meine Oma kam aus Österreich, ebenso wie einer meiner engsten und langjährigsten Freunde. Als Kind kannte ich natürlich die großen Pop-Sachen wie Falco und die EAV, in den 90ern hörte ich Kruder & Dorfmeister und Naked Lunch, in den Nullerjahren dann Ja, Panik usw. So richtig tief eingetaucht bin ich aber erst, als Wanda und Bilderbuch hier in Deutschland ihren großen Durchbruch hatten. Mit Voodoo Jürgens und Der Nino aus Wien war es dann endgültig um mich geschehen. Da war ich dann richtig angefixt und habe mich immer weiter in die Wiener Musikszene gearbeitet, nächtelange Youtube-Rabbit-Holes inklusive.
Was macht für dich die aktuelle österreichische Musikszene aus? Wie würdest du diese in ein paar Worten beschreiben? Inwiefern unterscheidet sie sich von der deutschen?
Sie spielt mit Klischees und bricht sie, ist überraschend, aufregend, divers, oft sehr mutig. Kurz: Sie scheißt sich nix. Wir Deutschen wollen immer gefallen, und damit stehen wir uns oft selbst im Weg. Dazu kommt eine Wiener Infrastruktur, die ihresgleichen sucht. So etwas wie FM4 zum Beispiel gibt es in Deutschland gar nicht.
Der Film »Vienna Calling« ist dein zweiter Dokumentarfilm. Du folgst einigen Musiker*innen, begleitest sie auf verschiedenen Bühnen und in ihrem Alltag. Was war dir bei der Auswahl deiner Protagonist*innen wichtig?
Dass sie mich auf irgendeine Weise berühren. Das musste nicht unbedingt musikalisch sein.
Wie leicht bzw. schwer war es, die Protagonist*innen für ein Mitwirken am Film zu begeistern?
Im Grunde waren alle, die jetzt im Film sind, recht schnell an Bord. Es gab auch zwei Absagen, aber die kamen mindestens ebenso schnell.
Der Film lebt nicht nur von seinen Protagonist*innen, sondern auch von den verschiedenen Locations. Nach welchen Kriterien hast du diese ausgewählt?
Mir ging es darum, Wien von einer Seite zu zeigen, die nichts mit dem Postkartenidyll zu tun hat. Ich wollte den Wiener Grind zeigen. Und dieser sollte möglichst groß erscheinen, das altbekannte Prächtige dagegen möglichst klein. Das war ein Leitmotiv, das ich mit meinem Director of Photography Max Berner verfolgt habe.
Der Film ist eine Hommage an Wien. Wir sehen quasi ein alternatives Wien-Bild oft auch bei Nacht. Ein Wien jenseits von Stephansdom und Schloss Schönbrunn. In den letzten Jahren scheint Wien an Beliebtheit gewonnen zu haben. Man denke etwa an verschiedene Rankings, die die Stadt sehr gut bewerten, und kürzlich setzte sich die New York Times mit Wiens Wohnungspolitik auseinander. Einige zeitgenössische österreichische Musiker*innen bekamen auch immer wieder Aufmerksamkeit im internationalen Feuilleton. Wie erklärst du dir diese Wien-Euphorie?
Ich denke, Wien ist mit seiner sozialen Wohnungspolitik, den Resten des »Roten Wien«, immer noch eine Art Leuchtturm. Die Stadt muss nur sehr aufpassen, dass sie diese Besonderheit nicht verliert und genauso durchgentrifiziert wird wie alle anderen europäischen Hauptstädte. Noch gibt es ein paar Schlupflöcher und Orte für Spontanes und für Kunst, aber diese werden immer weniger: Auf dem großen Platz in Neu Marx, wo in den letzten Jahren so viel Tolles passiert ist und wo wir für »Vienna Calling« die Szene mit Kerosin95 gedreht haben, wird jetzt eine neue Mega-Eventhalle gebaut. Das Ungar Grill musste einem Investor weichen. Das sind nur zwei traurige Beispiele von sehr vielen. Davon abgesehen ist Wien für mich ein faszinierender Ort, an dem ich mich völlig verlieren kann, ich verstehe die internationale Euphorie zu 100 Prozent. Denn Wien ist gleichzeitig altmodisch und hypermodern, das schaffen nicht viele Städte.
»Vienna Calling« nimmt nicht nur im Titel Bezug auf Austropop. Waren es früher Musiker*innen wie Falco, führen nun Menschen wie Voodoo Jürgens oder Der Nino aus Wien die Tradition des Austropop fort – und holen ihn ins 21. Jahrhundert. Dennoch stellt sich auch die Frage, wie viel Marketing hinter diesem Trend steckt – das spricht etwa Stefan Redelsteiner in deinem Film an. Wie siehst du das?
Stefan erzählt das im Film mit so viel Augenzwinkern, aber ein Körnchen Wahrheit steckt da sicher drin. Natürlich muss man Musik heutzutage mit vielerlei Mitteln geschickt vermarkten – das Angebot ist im Streaming-Zeitalter einfach riesig. Aber die Austropop-Marke wurde meiner Meinung nach überhaupt nicht von den Musiker*innen selbst weitergeführt, sondern eher seitens der Medien. Ich glaube nicht, dass Nino oder Voodoo sich selbst als Austropopper bezeichnen. Sicher mögen sie Ambros oder Falco, aber ihre Vorbilder heißen doch eher Lou Reed, Tom Waits, Syd Barrett oder Bob Dylan.
Der Film zeigt die verschiedenen Musiker*innen und begleitet sie etwa bei Vorbereitungen, Interviewszenen gibt es nur wenige. Warum?
Das Motto von »Vienna Calling« ist: Let the music do the talking. Viel transportiert sich über die Lyrics der Songs.
»Vienna Calling« erinnert an einigen Stellen selbst an Musikvideos. Welches Ziel hast du bei der optischen Gestaltung des Films verfolgt?
Meine visuelle Grundidee war es, ein Doku-Musical zu drehen. Rein dokumentarische Sequenzen sollten fast nahtlos in musikalische Performances übergehen. Ich finde, an einigen Stellen ist uns das ganz gut gelungen.
Wird dein nächster Film wieder im musikalischen Bereich angesiedelt sein?
Ideen dafür hätte ich ganz viele in der Schublade, aber das nächste Projekt hat vordergründig erst mal nichts mit Musik zu tun.
Welche (Kultur-)Tipps hast du für jemanden, der ein paar Tage in Wien verbringt?
Im Sommer an die Alte Donau gehen, eine Arschbombe machen und danach dem Treiben im Wasser zuschauen. Vormittags mal den Brunnenmarkt rauf- und runterspazieren. Eine Gulaschsuppe im Café Weidinger essen. Nachts am Würstlstand irgendwo am Gürtel ein Bier trinken und die Leute auf sich wirken lassen. Und zum Abschluss im Schmauswaberl auf ein paar Getränke vorbeischauen.
Der Film »Vienna Calling« von Philipp Jedicke ist ab 25. August 2023 in den österreichischen Kinos zu sehen.