Es irritiert, wenn Pop vier Jahre ohne neue Songs und Selbstdarstellung auskommt. Warum eigentlich? Nichts hat Boy wertvoller gemacht als das.
Durch ein verschwitztes Festivalzelt wirbeln Pogos. Einige Halbstarke ziehen ihre T-Shirts aus und schreien »Nie wieder Ritalin«, etwas von Kraftklub. Es ist kurz nach sieben, 23. Juni 2012, Boy spielen in Kürze ihr erstes Festivalkonzert. Das Duo steht bei gefühlten 50 Grad hinter der Bühne und hat Gänsehaut. Dieser Abend wird zeigen, ob sie nicht nur bei Grönemeyer-Fans und TV-Noir-Zusehern, sondern auch auf Festivals wie dem riesigen Southside ankommen. Nach dem Auftritt werden sie eine Horde wilder Katzen zum Schnurren gebracht haben. Jeder hier scheint zu denken: »In diesem Song geht es um mich alleine.« Meine letzte Beziehung, meine Angst vor dem Umzug, mein sommerliches Gefühl kurz vor den Ferien.
»Du kannst das wirklich verdammt gut«, sagt Sonja Glass zu Valeska Steiner, »Songs so diffus offen zu lassen, dass sich jeder eingeladen fühlt, seine eigene Geschichte darin zu lesen.« Die beiden Frauen sitzen in einem Hotelzimmer in Wien und behaupt, dass sie unausgeschlafen sind, obwohl sie blendend aussehen. Die Vormittagssonne brennt auf die Dachterrassen der Bobos unter ihrem Fenster. Der nächste Satz von Valeska überrascht: »Wir haben ein Nachtalbum gemacht. Es ist wie die blaue Stunde, die man auskostet, bevor es richtig finster wird.«
Unnahbar und undurchsichtig
Es ist Juli 2015, drei Jahre sind vergangen. Boy haben ein neues Album, Konzerte in Japan, Europa und den USA gespielt und Fans, die Nachrichten aus Brasilien und Mexiko schreiben. Amerikanische Radiosender widmeten ihrer Musik 45 Minuten Sendezeit und in Minneapolis sang das Publikum Zeile für Zeile ihrer Songs mit. Und all das haben die letzten Jahre nur jene mitbekommen, die dabei waren. Pop also, der nicht zu jeder Sekunde virtuell die ganze Welt unterhalten will. Geht sowas denn noch? Ja, sagen Boy. Sie haben das zweite Album »We Were Here« gehütet wie ein kleines Geheimnis. Die Musik ist still und leise zwischen Hamburg und Zürich entstanden. Bei Schreibblockaden griff man zum Telefon und rief sich an. So wie bei »New York«, als Valeska sich einbildete, nie mehr einen Popsong schreiben zu können und für neue Inspiration in den Big Apple reisen wollte.
Musikalisch hat man sich zu den Hymnen und Pop-Nummern weitergehantelt. Neben akustischen »Daughter«-Intros brummen erstmals Bässe, hallen Vocals, knistern Percussion-Effekte und flirren Synths. Andere Songs heißen »Hotel« und atmen die Detailtreue einer guten Sozialreportage: Eine Frau liegt im frisch gemachten Bett eines Hotelzimmers, die Mini-Bar ist geöffnet, der Fernseher läuft, nur der Schlaf fehlt. Auch Valeska und Sonja haben auf ihrer Tour unzählige Hotels von innen gesehen. Am Spannendsten waren die billigen Motels neben der Autobahn in Minnesota, wo es nur schwarzen Kaffee zum Frühstück gab, meint Sonja. Aber lieber malen sie sich die Geschichte einer Fremden aus, als die eigene zu erzählen.
Es ist schon sonderbar, dass Boy so lieblich und unschuldig wirken, obwohl sie vor allem eines sind: unnahbar und undurchsichtig. Nur weil Valeskas Stimme manchmal nach Breakup und erster Liebe klingt, erzählt sie nicht davon. »Liebe ist für uns ein weiter Begriff«, sagt sie, »und genau so muss ein Abschied nicht zwingend traurig klingen«. Und ein Album, dass den Zustand der Dämmerung beschreibt, klingt für den einen oder anderen eben auch nach einem unbeschwerten Sommertag in Wien.
»We Were Here« von Boy ist bereits via Grönland erschienen. Die Band ist am 2. November in der Wiener Arena live zu sehen, am 3. November im Grazer PPC und am 4. November im Linzer Posthof beim Club-Festival Ahoi! Pop.