Da wo Wien aufhört, sagen sich Güterbahnhöfe, Brotfabriken und Weinbauern gute Nacht. Wolfgang Freitag hat 20 dieser Orte und Nicht-Orte porträtiert.
01 Tiergarten Lainz
02 Deponie Langes Feld
03 Zentralverschiebebahnhof Kledering
04 Sender Bisamberg
05 Hafen Lobau
06 Power Grid Control
Laut Selbstbeschreibung ist Wolfgang Freitag ein "Intensiv-Geher". Auto, Straßenbahn, selbst das Fahrrad, das sei alles zu schnell, so Freitag im Gespräch. Was dabei rauskommt, wenn jemand mit 4 km/h Teile des Wiener Stadtrandes abgeht, hat Freitag, Redakteur von "Die Presse", kürzlich vorgelegt. Etwas über zwanzig gelungene Mikro-Geschichten jenseits aller Wienerwald-Idylle, interessant und lesenswert.
Wolfgang Freitag hat ein Sensorium für das, was sperrig in die Gegenwart hineinragt. In seiner "Presse"-Kolumne kann das eine vergessene Münzsprech-Telefonzelle Höhe Wiedner Gürtel/Belvedere oder irgendein in die Jahre gekommenes Weinbauer-Haus in Stammersdorf sein, in seinen Büchern – vor seiner Stadtrand-Erkundung setzte er sich mit den "Schattenorten" Wiens auseinander – sind es meist heruntergekommene Orte mit überkommenen Aufgaben.
Hammerbrot, Lobau, Kledering
Und es gibt gar nicht wenige dieser "Warten auf Godot"-Orte rund um Wien. Etwa die längst still gelegten Hammerbrot-Werke in Simmering, wo Edgar Jaindl als guter Geist über das Areal wacht. Fast 1.500 Arbeiter produzierten in den 1920er Jahren dort Brot für Wien, bis der Konkurrent aus Favoriten, Ankerbrot, irgendwann das Unternehmen kaufte. Hernach diente es als Postmuseum, später immer mehr als Abstelllager, zuletzt nicht einmal dafür. Oder das Areal der Lobau, dem Freitag seinen Nationalpark-Nimbus etwas nimmt, dafür aber die jahrzehntelange Bedeutung als Raffinerie und Hafen-Gegend herauszoomt. Weniger Auhirsch, dafür mehr Gasbehälter. Oder sein Aufenthalt auf dem Gelände des Zentralverschiebebahnhof in Kledering, einer "bahnlogistischen Abtei" (Freitag) der Sonderklasse, wo täglich bis zu 2.500 Waggons neu zusammen gestellt werden.
Ausgefranste Orte
Dass er diese Orte mit dem Reiz der Grenze, der Stadtgrenze verbindet, sei es drum, zwingend notwendig ist es nicht, zumal bekanntermaßen die Grenze zwischen Wien und Niederösterreich nicht im Entferntesten an echte Grenzen erinnert. Kein 66igster Breitengrad, eher nonchalante Übereinkunft für behördliche Regelungen, die die Bundeslandwerdung Wiens von 1920 ebenso verdaut hat, wie das Groß-Wien im Nationalsozialismus und hernach wieder die republikanisch-föderale Variante. Einerseits.
Andererseits machen die hoch aufmerksamen Grenzgänge von Freitag natürlich schon auch Sinn: seine beschriebenen Orte liegen nicht ohne Grund am Stadtrand, oder will jemand ernsthaft die Stromzentrale der Stadt oder die Beschussanlage der Polizei vor seiner Türe wissen? Freitag stellt die Frage nach dem topografischen reload zwar nicht, aber welche Orte sind es heute, die wir nicht vor unserer (Büro-) Tür haben wollen: die Wagenburgen der Besetzerszene, Flüchtlingsunterkünfte?
Antworten darauf hat auch Freitag keine. Muss er auch nicht. Dafür gibt es aber im Gespräch mit ihm noch nachgereichte Beobachtungen, etwa von der "stillen Lebendigkeit" an der östlichen Stadtgrenze Wiens, sprich Donaustadt. Stillgelegtes trifft auf Neubau, meist sind es Wohnareale, die sich über die ausgelagerten Arbeitsstätten legen. Wie er die neuen Entwicklungen am Stadtrand einschätzt? "Alles viel zu dicht gebaut. Die Gründerzeit-Logik -also die Ausnutzung der Fläche bis ins Extrem – macht hier, wo Freiraum da ist, wenig Sinn."
Alte Schule
Noch was anderes gilt es hervorzustreichen: Freitag schreibt sehr gut. Seine über zwanzig Porträts, seine Fähigkeit, in einigen Sätzen Atmosphäre, mit einigen Dialogen ein Porträt zu entwerfen, beeindrucken. Sein Stil, wie auch seine Fotos sind weder besonders ironisch oder pointenbemüht, seine Wortwahl ist old school, will heißen, da bemüht sich einer nicht alles gleich sprachlich auf den Punkt zu bekommen, in seiner Schreibe hat der Gegenstand Substanz, sein Gegenüber ein Recht auf Eigenwilligkeit. All das ist hier in selten guter Qualität nachzulesen und – ein Hinweis in Richtung Wiener Journalismus-Akademien – natürlich umgehend abzukupfern.
Wolfgang Freitag, Wo Wien beginnt, Metro Verlag, Wien 2015 span lang=“DE“>www.metroverlag.at