Zeit des Erwachens

255 Zwerge, 117 Brücken, 1 lange und zermürbende Geschichte. Breslau hat einiges zu erzählen. 2016 wird sie zur Kulturhauptstadt Europas.

Babiszewska ist zuversichtlich, dass der Kulturhauptstadt so etwas nicht im Weg stehen werde, da das Gesetz die Kunst (noch) schütze. Trotzdem könnte die neu gewählte Regierung PiS (dt. "Recht und Gerechtigkeit"), die von der Kirche gestützt wird, der Kulturhauptstadt einen bitteren Beigeschmack verpassen. Sich wiederholende antisemitische und antiislamische Hass-Demos wie jene vom 25. November könnten Touristen abschrecken.

Vereinigung der Geister

Eröffnet wird feierlich am 15. Jänner 2016, dem sogenannten "Erwachen". Dabei sollen die Breslauer wie durch einen Glockenschlag wachgerüttelt werden. Dafür wird Performancekünstler Chris Baldwin sorgen. Aus vier unterschiedlichen Ecken der Stadt werden "Geister" zum Leben erweckt. Diese Gespenster sind Metallkonstruktionen, die für vier historische Säulen – Innovation, Religion, Wiederaufbau und Hochwasser – stehen. 1997 wurden Teile Breslaus bei der Jahrhundertflut zerstört.

Der Brite Baldwin arbeitete dafür zusammen mit dem französischen Künstler Philipp Geffroy, der diese Geister-Maschinen entwarf. An diesem Ereignis werden Hunderte von Künstlern aus ganz Polen teilnehmen und die Geister am Ende ihrer Reise im Zentrum der Stadt zu einem großen Ganzen zusammenführen.

Aus der Asche auferstanden

Dabei haben die Hauptstadt der Woiwodschaft Niederschlesiens und ihre Bewohner im Laufe der letzten 100 Jahre eine Menge ertragen müssen. Breslau trug in dieser Zeit sehr viele Namen. Auf manche sind die Bewohner stolz, manche lassen sie erschaudern. 1944 wurde sie zur "Festung Breslau", das Jahr darauf erlagen 21.600 der 30.000 Gebäude dem Bombardement der Roten Armee. Der Großteil der Stadt lag in Schutt und Asche, Dreiviertel der Einwohner mussten fliehen.

Die Bewohner kamen zurück, die Stadt wurde wieder polnisch und 1955 begann der Wiederaufbau. Die einstige gigantische Ruine Breslau bietet heute ein einzigartiges Stadtbild. Eine Mischung aus gotischen Kolossen und maroden, sozialistischen Plattenbauten. Hindurch schimmern moderne Bürokomplexe und Einkaufszentren.

Und wer sich am renovierten und mit bunten Gebäuden geschmückten Rynek ("Großer Ring") genau umsieht, läuft vielen kleinen Symbolen der kommunistischen Widerstandsbewegung über den Weg. Zwerge aus Bronze hängen an Straßenlaternen, seilen sich von Balkonen herab oder entspannen gemütlich und Füße ausstreckend am Laptop beim Kaffee. Der erste dieser Gnome, "Papa Zwerg", findet sich direkt vor der für die ESK renovierten Bar Barbara. Sie sei "das Herz der ESK". Die ehemalige Molkerei war schon immer ein Ort für intellektuellen Austausch, so Babiszewska. Nun ist sie Infopoint, ESK-Büro und Kaffehaus.

Architektur im Aufbruch

Noch vor der Renovierung des Barbara begann Breslau mit dem Bau des Nationalen Forums der Musik (Narodowe Forum Muzyki) – ein architektonisches Symbol, das die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Kultur in der Stadt erhöhen und das wirtschaftliche Potenzial der Region Breslau stärken solle. Bereits Monate vor der offiziellen ESK-Eröffnung bietet das Forum ein dichtes musikalisches Angebot an Klassik- und Jazzkonzerten. Die Konzerte sind schnell ausgebucht. Das auf dem Platz der Freiheit errichtete Bauwerk ist modern, wirkt aber keinesfalls fehl am Platz. Die rostrote Holzfassade fügt sich nahtlos in die zinnoberroten Hausdächer der Stadt ein.

Noch ist unter den Bewohnern Breslaus allerdings wenig von Kulturhauptstadt zu spüren. Die Message ist angekommen. Der Duktus des "volksnahen" Kulturangebots, der die Breslauer in seinen Bann ziehen soll, wird aber wohl erst mit der Ankunft der Touristen so richtig ins Rollen gebracht werden.

Breslau ist gemeinsam mit San Sebastian Europäische Kulturhauptstadt 2016. Alle Informationen auf Deutsch finden sich auf hier.

Bild(er) © M.Jędrzejczak, Lukasz Rajchert
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