Zurück in die Schulzeit – »Sagdochmalluca« im Dschungel Wien

Ein »Tribunal« von Schüler*innen versucht herauszufinden, wie es dazu kam, dass Luis mit gebrochener Nase blutend in der Umkleide liegt. Ob es nun Luca war und falls ja, ob mit oder ohne Eisenstange, und welche Rolle Alessia dabei spielt, ist wohl Ansichtssache. »Sagdochmalluca« im Dschungel Wien widmet sich unter anderem den Themen Wahrheit, Liebe, Nichtbinärität und Freundschaft, lässt dabei aber vieles offen.

© Clemens Nestroy (Szenenfoto »Sagdochmalluca«)

An einem Montag morgen um 10:00 Uhr stehe ich gemeinsam mit zwei Schulklassen im Dschungel Wien und warte darauf, dass sich die Türen zum Vorstellungsraum öffnen. Sowohl die Jugendlichen als auch deren Lehrpersonen (und kurz sogar die Mitarbeitenden des Dschungels) sind verwundert, warum ich mir um diese Uhrzeit alleine ein Jugendtheaterstück ansehe. Einige schiefe Blicke und etwas Getuschel von Schüler*innen – gefolgt von ermahnenden Worten einer Lehrerin – und schon fühle ich mich in meine eigene Schulzeit zurückversetzt. Dieses Gefühl wird noch stärker als wir den Vorstellungsraum betreten. Auf der Bühne türmen sich Schultische und -bänke, umgeben von verschiedenen Metallspinden, wie man sie aus Klassenzimmern und Sportumkleiden kennt. Das Bühnenbild erinnert an ein verwüstetes Klassenzimmer und das Publikum passt bestens dazu.

»Spult mal zurück«

»Sagdochmalluca« (Bild: Clemens Nestroy)

Ich sitze in der letzten Reihe zwischen vier Burschen, die sichtbar keine Lust auf Kulturprogramm haben, und deren Lehrerin, die daran etwas verzweifelt. Die Dynamiken im Publikumsraum, von Reibereien zwischen Schüler*innen bis zu gestressten Lehrkräften, werden zum Verwechseln ähnlich auf der Bühne widergespiegelt. Das dürften auch die Kids so sehen: bei mehreren Szenen rufen sie Namen von Lehrer*innen und Mitschüler*innen dazwischen, an die sie die Schauspieler*innen offensichtlich erinnern. Eine zusätzliche versteckte Qualitätsbekundung der dargebotenen Schauspieltalente bringt mich unerwartet zum Lachen, als einer der Charaktere, ein Besserwisser im Poloshirt, auf der Bühne das Wort ergreift und einer der Burschen neben mir »Halt die Fresse« murmelt. So sehr mich diese Experience an meine eigene Schulzeit erinnert, so sehr fallen mir auch einige wichtige Unterschiede auf, die mich positiv überraschen.

»Der Luca« – »Nicht der«

Die zehn Darsteller*innen in »Sagdochmalluca« erzählen sich gegenseitig ihre Wahrnehmung beziehungsweise spekulieren über die Ereignisse, die dazu geführt haben, dass Luis‘ Nase gebrochen ist und er stark blutet. Dabei unterbrechen sie sich gegenseitig, schlüpfen ab und an von Schüler*innen- in Lehrer*innen-Rollen, spulen die Zeit zurück und hinterfragen neben den jeweiligen Wahrheiten auch Geschlechterzuschreibungen, Stereotype und diskriminierende Formulierungen.

Das zeigt sich zum Beispiel als Frau Ludwig, die neue Deutschlehrerin, zur Aufgabe gibt, Geschlechterklischees über Männer und Frauen zu sammeln und die Kids den Sinn der Aufgabe sofort in Frage stellen: »Werden diese Klischees durch Wiederholung nicht einfach verstärkt?« Als die Klasse die Aufgabe trotz der Kritik erledigen muss, verlässt Luca unkommentiert das Klassenzimmer (vielleicht in Zeitlupe, vielleicht auch nicht – je nachdem, wen man fragt).

Luca ist nichtbinär und hat den Satz »Ich möchte bitte nicht als Junge bezeichnet werden. Wenn Sie diese Bitte ignorieren, ist das diskriminierend gegenüber nichtbinären Personen« wie auf Knopfdruck parat. Lucas Mitschüler*innen machen vor allem am Anfang des Stücks oft Fehler bei Lucas Pronomen, bessern sich aber gegenseitig jedes Mal aus und weisen auch Lehrkräfte auf deren Fehler hin. Da fängt der Vergleich zu meiner eigenen Schulzeit schon an zu hinken. Als der Rest der Klasse Frau Ludwig in Lucas Abwesenheit erklärt, dass ihre Aufgabe ein binäres Geschlechterbild perpetuiert in das Luca nicht passt, läuft diese Luca hinterher, um sich zu entschuldigen. Undenkbar zu meiner Schulzeit.

»In the meantime, everything’s fine«

»Sagdochmalluca« (Bild: Clemens Nestroy)

Aber nicht nur der Inhalt der Produktion, sondern auch die Rezeption der Schüler*innen hat mich positiv überrascht. Es gab weder abwertende Kommentare noch abschätziges Lachen in Bezug auf Lucas Geschlechtsidentität, Lucas enge queercoded Beziehung zu Luis oder die etlichen Male bei denen Geschlechternormen, Sexismus und das Patriarchat kritisiert wurden.

Jugendliche können ein schwieriges Publikum sein und ich hätte dem Stück mehr Applaus gewünscht, wobei ich einigen verwirrten Stimmen aus den Schulklassen, ob des abrupten Endes beipflichten kann. Gleichzeitig finde ich ein offenes Ende für dieses Stück an sich sehr passend. Eine überzeugende, berührende Stelle hätte sich allerdings bereits einige Szenen davor angeboten, als Luca, Luis und Alessia in blau-violettem Licht den Wirbel an Spekulationen unterbrechen und zu dritt, begleitet von einer Akustikgitarre, »In the Meantime, Everything’s Fine« singen während Blut über die Spinde hinter ihnen läuft.

»Sagdochmalluca« ist das Sieger*innenstück des Retzhofer Dramapreises 2023 in der Kategorie »Für junges Publikum«.

Dieser Text ist im Rahmen eines Schreibstipendiums in Kooperation mit dem Dschungel Wien entstanden.

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