Nataliya Tereshchenko ist Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin sowie Mitglied und ehemalige Mitarbeiterin des Europäischen Verbandes für Psychotherapie. Nach neun Jahren Ausbildung und Arbeit in Wien kehrte sie letzten Dezember zurück in ihre Heimat, die Ukraine, um sich dort ein Leben aufzubauen. Drei Monate später zwang sie die Invasion der russischen Armee zur Flucht.
Wie hast du die Entwicklungen vor Kriegsbeginn in Ukraine erlebt? Hat sich für dich die Notwendigkeit einer Flucht abgezeichnet?
Nataliya Tereshchenko: Wir haben die Situation verleugnet und nicht gedacht, dass die Lage auch rund um Kyjiw eskalieren würde. Dass im Osten seit 2014 Krieg herrscht, daran haben wir uns ein bisschen gewöhnt. Dass auch Städte im Westen der Ukraine betroffen sein würden, hat aber niemand erwartet. Als ich dann am ersten Tag der Invasion realisiert habe, dass die Bomben überall sind, habe ich keine andere Wahl mehr gehabt als zu fliehen.
Wie hast du die Wochen seit deiner Flucht erlebt?
Ich bin noch immer in einem Schockzustand, in einem Zustand des Betäubtseins und der Desorientierung. Es ist sehr schwer für mich, überhaupt irgendetwas zu tun. Als Psychotherapeutin weiß ich aber, dass das nur ein Gefühl ist, eine Art Schutzmechanismus. Ich muss jetzt hier in Österreich wieder eine gewisse Sicherheit für mich aufbauen, noch einmal neu beginnen. Ich wollte ja in Kyjiw eine Praxis eröffnen und hatte mein Leben hier eigentlich schon abgeschlossen.
Willst du in die Ukraine zurückkehren, sobald dies wieder möglich ist?
Ich plane, so lange hier zu bleiben, wie es wegen des Krieges nötig ist. Aber wie alle anderen Geflüchteten möchte ich in die Ukraine zurückkehren. Wir haben ein sehr schönes Land, das reich an Möglichkeiten ist, was die Karriere oder Kunst und Kultur betrifft. Und auch im IT-Bereich ist die Ukraine sehr fortschrittlich, bei uns wurden etwa die ersten digitalen Pässe der Welt eingeführt.
Du hast zuvor deine persönlichen Erfahrungen geschildert. Aus Sicht der Psychotherapeutin: Welche Auswirkungen haben Krieg und Flucht auf den Menschen?
Zum einen gibt es das, was man eine akute Belastungsreaktion nennt – sich wie betäubt zu fühlen, eine Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten. Und zum anderen die posttraumatische Belastungsstörung. Sie kann Monate, sogar Jahre dauern. Betroffene empfinden dabei eine Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, eine Teilnahmslosigkeit und Freudlosigkeit. Man hat auch immer wieder Flashbacks. Des Weiteren leiden Geflüchtete etwa unter Anpassungsstörungen. In der Psychoanalyse sagt man, dass sie noch einmal eine Separation erleben und in der für sie fremden Kultur eine neue Identität entwickeln müssen. Das geht oft mit Depressionen einher.
Wie kann in solchen Fällen geholfen werden?
Für Personen, die geflüchtet oder migriert sind, ist es wichtig, Anker zu finden, die ihnen eine gewisse Stabilität geben. Das können zum Beispiel Personen sein, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Es ist auch wichtig, ihnen zu zeigen, dass die Gesellschaft sie unterstützt. Etwa indem man mit ihnen in Kontakt tritt, Interesse zeigt für das, was sie durchgemacht haben. Indem man ihnen eine gewisse Sicherheit anbietet. Außerdem ist es wichtig, dass sie ihre Trauer verarbeiten, dass sie dieses Gefühl auch zulassen und sich erlauben, traurig zu sein.
Wie wirken sich solche Belastungen auf jüngere Generationen aus?
Diese leiden ganz besonders, weil sie sich in einer Phase befinden, in der ihnen die Außenwelt eigentlich die nötige Stabilität geben sollte, bis sie selbst ausreichend unabhängig sind. In Kriegszeiten ist das natürlich schwierig. Neben latenten Depressionen kann das dazu führen, dass sie die Aggressivität des Krieges quasi aufsaugen und dadurch selbst ein unpassendes Sozialverhalten oder ein anderes Moralverständnis entwickeln.
Wie geht man allgemein am besten mit krisenhaften Situationen um?
Das ist eine sehr komplexe Frage. In jeder Krise ist es wichtig, für sich Anker zu finden, die Stabilität und Sicherheit geben. Es ist auch wichtig, sich ein realistisches Bild zu machen und zu verstehen, was man selbst für sein Wohlbefinden tun kann; und wenn man genug Ressourcen hat: was man anderen Menschen anbieten kann. In Krisenzeiten ist es gut, Kontakte zu pflegen, um über schwierige Themen sprechen zu können. So entwickelt sich ein Gefühl, dass man nicht alleine ist. Dass es andere gibt, die Ähnliches durchmachen.
Nataliya Tereshchenko hat an der Sigmund Freud Privatuniversität studiert und als Psychotherapeutin in Wien gearbeitet. Ihren Plan, zurück in der Ukraine eine Praxis zu eröffnen, unterband der Angriffskrieg Russlands, der sie im Februar zur Flucht zwang.
Anlässlich unseres 25-Jahr-Jubiläums haben wir uns in The Gap 192 »25 Fragen zur Gegenwart« gestellt. Dieser Beitrag beantwortet eine davon.