Wie ist es, vor einem Krieg fliehen zu müssen? – 25 Fragen zur Gegenwart (3/25)

Nataliya Tereshchenko ist Psycho­therapeutin und Psycho­analytikerin sowie Mitglied und ehemalige Mitarbeiterin des Europä­ischen Verbandes für Psycho­therapie. Nach neun Jahren Ausbildung und Arbeit in Wien kehrte sie letzten Dezember zurück in ihre Heimat, die Ukraine, um sich dort ein Leben aufzubauen. Drei Monate später zwang sie die Invasion der russischen Armee zur Flucht.

© Lukas Weidinger

Wie hast du die Entwicklungen vor Kriegsbeginn in Ukraine erlebt? Hat sich für dich die Not­wendig­keit einer Flucht abgezeichnet?

Nataliya Tereshchenko: Wir haben die Situation verleugnet und nicht gedacht, dass die Lage auch rund um Kyjiw eskalieren würde. Dass im Osten seit 2014 Krieg herrscht, daran haben wir uns ein bisschen gewöhnt. Dass auch Städte im Westen der Ukraine betroffen sein würden, hat aber niemand erwartet. Als ich dann am ersten Tag der Invasion realisiert habe, dass die Bomben überall sind, habe ich keine andere Wahl mehr gehabt als zu fliehen.

Wie hast du die Wochen seit deiner Flucht erlebt?

Ich bin noch immer in einem Schockzustand, in einem Zustand des Betäubt­seins und der Desorien­tierung. Es ist sehr schwer für mich, überhaupt irgendetwas zu tun. Als Psycho­therapeutin weiß ich aber, dass das nur ein Gefühl ist, eine Art Schutz­mechanismus. Ich muss jetzt hier in Österreich wieder eine gewisse Sicherheit für mich aufbauen, noch einmal neu beginnen. Ich wollte ja in Kyjiw eine Praxis eröffnen und hatte mein Leben hier eigentlich schon abgeschlossen.

Willst du in die Ukraine zurückkehren, sobald dies wieder möglich ist?

Ich plane, so lange hier zu bleiben, wie es wegen des Krieges nötig ist. Aber wie alle anderen Geflüch­teten möchte ich in die Ukraine zurückkehren. Wir haben ein sehr schönes Land, das reich an Möglich­keiten ist, was die Karriere oder Kunst und Kultur betrifft. Und auch im IT-Bereich ist die Ukraine sehr fort­schrittlich, bei uns wurden etwa die ersten digitalen Pässe der Welt eingeführt.

Du hast zuvor deine persönlichen Erfahrungen geschildert. Aus Sicht der Psycho­therapeutin: Welche Auswirkungen haben Krieg und Flucht auf den Menschen?

Zum einen gibt es das, was man eine akute Belastungs­reaktion nennt – sich wie betäubt zu fühlen, eine Unfähig­keit, Reize zu verarbeiten. Und zum anderen die post­traumatische Belastungs­störung. Sie kann Monate, sogar Jahre dauern. Betroffene empfinden dabei eine Gleich­gültig­keit gegenüber anderen Menschen, eine Teil­nahms­losig­keit und Freud­losig­keit. Man hat auch immer wieder Flash­backs. Des Weiteren leiden Geflüchtete etwa unter Anpassungs­störungen. In der Psycho­analyse sagt man, dass sie noch einmal eine Separation erleben und in der für sie fremden Kultur eine neue Identität entwickeln müssen. Das geht oft mit Depres­sionen einher.

Nataliya Tereshchenko, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin aus der Ukraine © Nataliya Tereshchenko

Wie kann in solchen Fällen geholfen werden?

Für Personen, die geflüchtet oder migriert sind, ist es wichtig, Anker zu finden, die ihnen eine gewisse Stabilität geben. Das können zum Beispiel Personen sein, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Es ist auch wichtig, ihnen zu zeigen, dass die Gesell­schaft sie unterstützt. Etwa indem man mit ihnen in Kontakt tritt, Interesse zeigt für das, was sie durchgemacht haben. Indem man ihnen eine gewisse Sicher­heit anbietet. Außerdem ist es wichtig, dass sie ihre Trauer verarbeiten, dass sie dieses Gefühl auch zulassen und sich erlauben, traurig zu sein.

Wie wirken sich solche Belastungen auf jüngere Genera­tionen aus?

Diese leiden ganz besonders, weil sie sich in einer Phase befinden, in der ihnen die Außen­welt eigentlich die nötige Stabilität geben sollte, bis sie selbst ausreichend unab­hängig sind. In Kriegs­zeiten ist das natürlich schwierig. Neben latenten Depressionen kann das dazu führen, dass sie die Aggressivität des Krieges quasi aufsaugen und dadurch selbst ein unpassendes Sozial­verhalten oder ein anderes Moral­verständnis entwickeln.

Wie geht man allgemein am besten mit krisenhaften Situationen um?

Das ist eine sehr komplexe Frage. In jeder Krise ist es wichtig, für sich Anker zu finden, die Stabilität und Sicherheit geben. Es ist auch wichtig, sich ein realistisches Bild zu machen und zu verstehen, was man selbst für sein Wohl­befinden tun kann; und wenn man genug Ressourcen hat: was man anderen Menschen anbieten kann. In Krisen­zeiten ist es gut, Kontakte zu pflegen, um über schwierige Themen sprechen zu können. So entwickelt sich ein Gefühl, dass man nicht alleine ist. Dass es andere gibt, die Ähnliches durchmachen.

Nataliya Tereshchenko hat an der Sigmund Freud Privat­universität studiert und als Psycho­therapeutin in Wien gearbeitet. Ihren Plan, zurück in der Ukraine eine Praxis zu eröffnen, unterband der Angriffs­krieg Russlands, der sie im Februar zur Flucht zwang.

Anlässlich unseres 25-Jahr-Jubiläums haben wir uns in The Gap 192 »25 Fragen zur Gegenwart« gestellt. Dieser Beitrag beantwortet eine davon.

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