385 Tränen, 596 Lächeln

Das Wiener Künstlerkollektiv Die schweigende Mehrheit sagt ja haben zusammen mit Asylwerbern und österreichischen Schauspielern Elfriede Jelineks Stück "Die Schutzbefohlenen" inszeniert. Wir haben sie gefragt, warum sie das machen.

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Die schweigende Mehrheit sagt ja gibt es seit 25. Juli. Laut Aussage des Künstlerkollektivs habe die Inszenierung einer humanitären Katastrophe in Traiskirchen durch das Innenministerium und das Ausbleiben einer Reaktion durch die Zivilgesellschaft sie auf den Plan gerufen. Sie haben Elfriede Jelineks "Schutzbefohlene" genutzt, um Schutzbefohlenen also Flüchtlingen eine Stimme zu geben. Inszeniert wurde das von Tina Leisch und Bernhard Dechant.

Wer steckt hinter dem Künstlerkollektiv Die schweigende Mehrheit sagt ja?

Viele Menschen und ein Frosch.

Wie kommt der Name zustande?

Seit über 20 Jahren lassen sich die PolitikerInnen von SPÖ und ÖVP von den rechten Hetzern nach rechts treiben, vor allem in der Migrations- und Flüchtlingspolitik. Das geschieht immer mit der stillschweigenden Unterstellung, dass die schweigende Mehrheit der Menschen in Österreich tendenziell rechts und rassistisch sei und sich vor Fremden fürchte.

Wir sind der Überzeugung, dass das falsch ist und die große Welle der Sympathie und der Hilfe in den letzten Wochen hat es bewiesen: Die Schweigende Mehrheit der Leute sagt JA zur Solidarität mit Menschen in Not.

Gemeinsam mit 40 Flüchtlingen aus Traiskirchen habt ihr die Inszenierung von Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ erarbeitet…

Jelineks Text lag einfach auf der Hand. Aber Stichwort: ‚Was ist wichtiger, Öffentlichkeitsarbeit, also Theater, oder direkte Hilfe, also Deutschkurs?‘, ein Konflikt, der uns seit dem Protest vor der Oper ständig begleitet. Die Idee zum Deutschkurs hatte zwei Hintergründe. Erst einmal waren wir uns unsicher, ob es nicht besser wäre Deutsch mit den Schutzbefohlenen zu lernen, anstatt mit ihnen Theater zu machen.

Der zweite Punkt ist einfach die Tatsache, dass die private Betreuungsfirma ORS verpflichtet ist, den Schutzbefohlenen während ihres Aufenthaltes in Traiskirchen Deutschkurse anzubieten. Dieser Verpflichtung wird nicht nachgekommen, im Gegenteil. Sie wird, wie viele andere Pflichtverletzungen, vom Innenministerium und somit von der Republik Österreich und somit von uns SteuerzahlerInnen, die die ORS ja letzten Endes bezahlen, ignoriert. Würde man als Privatperson eine Firma oder ein Hotel bezahlen, die sämtliche Vertragsbedingungen nicht erfüllen? Nein. Der österreichische Staat, also wir, tun dies aber. Warum?

Arbeitet ihr bei der Inszenierung mit Jelineks Originaltext oder habt ihr die Geschichten der Flüchtlinge mit eingewebt?

Wir arbeiten mit Sätzen aus Jelineks Text und Sätzen, die in den Proben entstehen. Und mit Sätzen, die in den Proben als Reaktion auf Jelineks Sätze entstehen.

War es schwierig Flüchtlinge zu finden, die bereit waren als Akteure zu agieren?

Nein, wir haben einfach Menschen vor dem Lagertor angesprochen, ob sie Lust haben mit uns Theater zu machen. Die ersten Proben haben uns allen einen Riesenspass gemacht und dann hat es sich im Camp herumgesprochen.

Wie geht ihr mit der sprachlichen Vielfalt der Mitwirkenden um?

Mit chaotischer, liebevoller Überforderung. Nein. Das ist natürlich die größte Herausforderung. Wir arbeiten mit ÜbersetzerInnen in mehreren Sprachen, mit Refugees, die schon länger in Österreich sind und schon Deutsch können. Und mit Händen und Füßen.

Was hofft ihr mit der Inszenierung auszulösen?

Was mal ganz praktisch passiert, dass wir die Leute aus Traiskirchen rausholen. Eigentlich sind wir ein theatrales Wohnraumvermittlungsprojekt. Teil jeder Aufführung ist ein Kennenlernen und Reden. Wir haben bis jetzt 12 unserer cirka 40 Performer in privaten und staatlichen Wohnungen untergebracht. Ziel ist es, dass keiner unserer Schauspieler mehr in Traiskirchen leben muss. Wir hoffen, dass der eine oder die andre ZuschauerIn nach der Vorstellung einem Schauspieler ein Zimmer anbietet. Wir hoffen, dass unser Publikum es schafft, die niederösterreichische Landesregierung zu überzeugen, dass sie endlich das ehemalige Landespflegeheim in der Wiener Strasse in Baden für Flüchtlinge öffnet. Wir hoffen, dass mehr Leute Fortbildungsplätze, Deutschkurse, Begegnungsräume anbieten.

Da wir jetzt in allen Theatern spielen wollen, die Refugees willkommen heißen, erreichen wir Theaterpublikum. Das ist natürlich nur ein sehr kleiner Ausschnitt der Gesellschaft. Aber die Aufführung am Wallensteinplatz und auf der Großdemo am 3. Oktober hat uns schon gezeigt, dass es gut ist, auch im öffentlichen Raum zu spielen, wo Leute zuschauen und nachher 20 Euro in den Hut werfen und man sieht: es ist viel Geld für sie, Leute, die vielleicht nie ins Theater gehen würden.

Wir sind dankbar für Tipps und Einladungen, wo wir auch im Winter im öffentlichen Raum spielen könnten. Vielleicht in Einkaufszentren? Jugendzentren? Gemeindebauten? Generell versuchen wir mit all unseren Aktionen, Menschen, die manche nur als Flüchtlingsstrom kennen, ein Gesicht zu geben.

Die Premiere fand bereits am 12. September im Rahmen des Festivals für Europa statt. Welche Reaktionen gab es?

Applaus. Mehrere Angebote von Wohnräumen, zwei Angebote für Gratistrainerausbildungsplätze als Takewondolehrer, 385 Tränen, 596 Lächeln. Dass Nuris Lied im Radio gespielt wird.

Weitere Aufführungen finden am Sonntag, 18.10. um 18.30 im Dschungel Wien und am 19.10. um 19.00 im Schwarzberg statt. Mehr Infos gibt es hier.

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