Ist Erinnerung ein identitätsstiftendes Narrativ? Und was, wenn wir keine eigenen Erinnerungen schaffen? Der österreichische Beitrag in der Sektion »Encounters« auf der Berlinale geht dieser Frage nach.
Wo verorten wir Erinnerungen. Wie machen sie uns zu einem Menschen mit Wünschen und Bedürfnissen. Und was, wenn sie uns nichts bedeuten? In ihrem zweiten Spielfilm untersucht die österreichische Filmemacherin Sandra Wollner abermals die Bedeutung von Erinnerung, das Leben mit geistigen Fragmenten der Vergangenheit und das Ineinanderfließen von Gestern und Morgen. Ausgangspunkt ist diesmal ein Android (Lena Watson), die erst als Elli und später als Emil ein Vehikel für die Erinnerungen anderer Menschen darstellen muss. Und diese Erinnerungen sind mitunter durchaus kontrovers. Wollner hat ein kompliziertes Werk geschaffen, das bei der 70. Berlinale mit dem Spezialpreis der Jury in der Sektion »Encounters« ausgezeichnet wurde.
Elli, wie das Wesen zunächst heißt, lebt mit einem Mann, den sie Papa nennt, irgendwo in der Peripherie von Wien. Die Tage verbringen sie faulenzend am Pool oder tanzend in einer Bar. Und abends, wenn die beiden zu Hause sind, dann nimmt Papa sie schon einmal mit ins Bett oder fotografiert sie lasziv. »Ich bleib für immer bei dir«, flüstert das elektronische Mädchen, kurz bevor sie sich in Pose für ihn wirft. »Ich weiß was du magst«, neckt er sie im Pool, bevor die Kleider vom Körper fliegen. Was genau ist diese Beziehung? Ist es die von schmerzhafter Nostalgie getriebene Sexualisierung eines Vater-Tochter Verhältnisses? Wo ist die echte Elli? Wollner entzieht sich dem ZuschauerInnenbedürfnis, hier eine Erklärung zu liefern oder zu rationalisieren. Ihre Elli ist eine Hülle, ein Sammelsurium für Erinnerungen, die ihr selber nichts bedeuten. Es sind die ZuschauerInnen, die diese teils provokanten Szenen mit Bedeutung aufladen.
Unterbrochen wird der Alltag von Elli und Papa, als beide eine Präsenz kommen spüren, die Wollner immer wieder als verzerrte, dröhnende, subjektive Irrung durch das Dickicht eines Waldes inszeniert. Verloren in diesem Irrgarten eines merkwürdigen Echos wird Elli von einem Autofahrer aufgegabelt und zu seiner Mutter Anna gebracht. Diese trägt ebenfalls eine traumatische Erinnerung mit sich herum: Der frühe Tod ihres Bruders Emil. Auf Elli wartet somit eine neue Identität.
Der Verlust der Kindheit, der falsche Komfort durch Verweilen im Vergangenen – »The Trouble With Being Born« provoziert, indem er diese Sehnsüchte auf eine Figur projiziert, die wie ein Opfer ihrer Umstände wirkt, aber eigentlich überhaben ist. Dabei geht es Wollner nicht darum, realistische futuristische Künstliche Intelligenz zu thematisieren. Ihr Android ist eine Parabel, ein Fabelwesen, das für gewisse Ideen einsteht, die die Regisseurin ansprechen will.
Immer wieder starrt sich Elli in Spiegeln selbst an. Sie bzw. er, der Doppelgänger ungelöster Anhänglichkeit und menschlicher Emotion, der langsam die Grenzen zwischen Gewesenem und Hypothetischem verwischen lässt. Elli muss perfekt funktionieren. Das ist ihre Funktion. So reagiert Papa fast unwirsch, als sie sich nicht an ein Lied erinnern kann, das er mit der echten Elli vor zehn Jahren in Belgrad gehört hat.
So provokativ der Film manchmal ist, so frustrierend kann er auch sein, wenn er sich inhaltlich komplett seiner Verortung entzieht. »Die haben mich sicher gesucht, aber ich habe mich voll gut versteckt«, erklärt Elli in einer Szene aus dem Voice-Over spitzbübisch. Solche kryptischen Aussagen sind oftmals anstrengend. Vor allem weil man als ZuschauerIn unweigerlich versucht, dieses Puzzle zu lösen, um die Handlung besser einordnen zu können. Zudem wird auch die spätere Geschichte rund um Emils Schwester Anna viel klarer und übersichtlicher kommuniziert.
»The Troube With Being Born« hat auf der Berlinale für einigen Gesprächsstoff gesorgt. Als ZuschauerIn wird man gezwungen, tief verwurzelte ethischen Grundsätze über Bord zu werfen und hinter die Provokation zu blicken. Dort öffnet sich dann ein Fass an Fragestellungen zu Identität, Menschlichkeit und auch – selbst wenn Wollner es nicht beabsichtigt hatte – dem Bewusstsein von künstlicher Intelligenz.
»The Trouble With Being Born« lief auf der Berlinale in der Sektion »Encounters« und feierte seine Weltpremiere am 25. Februar. Er wurde mit dem Spezialpreis der »Encounters«-Jury ausgezeichnet.