Digitale Mündigkeit per Lehrplan – Das neue Pflichtfach Digitale Grundbildung

In den Mittelschulen und AHS-Unterstufen vermitteln Lehrkräfte seit diesem Schuljahr verpflichtend technische und soziale Medienkompetenz im Fach Digitale Grundbildung. Wir haben recherchiert, was das Bildungsministerium damit will und wie Lehrer*innen das neue Fach einschätzen.

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Was machen die Menschen mit den Medien? Und was machen die Medien mit einem selbst? Fragen, die sich vor ein paar Jahren vielleicht noch Erstsemestrige der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft gestellt hätten, haben Einzug in den österreichischen Schulalltag gehalten. Längst geht es nicht mehr nur darum, Schüler*innen die grundsätzliche Handhabung von Computern oder das Erstellen von Ordnern und Excel-Listen beizubringen, sondern um Kernkompetenzen im Umgang mit Medien, digitalen Realitäten und Kommunikation.

Digitale Grundbildung heißt das Fach, das seit dem Schuljahr 2022/23 verpflichtend an allen Mittelschulen und AHS-Unterstufen in Österreich unterrichtet wird. Ziel sei, so das Bildungsministerium, »die Förderung von Medienkompetenz, Anwendungskompetenzen und informatischen Kompetenzen, um Orientierung und mündiges Handeln im 21. Jahrhundert zu ermöglichen«. Das sei wichtig in einer Welt, in der die Digitalisierung »Selbstbilder, Lebenswelt, Kommunikation, Kultur, Weltverständnis und Gesellschaft, Arbeitswelt, Wirtschaft, Produktion und Technik« dominiere.

Die Notwendigkeit, jungen Generationen eine kompetentere Nutzung von digitalen Medien zu vermitteln, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass diese als Digital Natives aufwachsen. Warum? Technik ist für sie von klein auf präsent, der Umgang damit intuitiv. Gleichzeitig ist sie so konsument*innenfreundlich in der Bedienung wie komplex in ihren Hintergründen, was es schwierig macht, sie kritisch zu hinterfragen.

Native Anwendungen

Der Lehrer Paul Glanzer, der neben Mathematik und Chemie auch Digitale Grundbildung unterrichtet, bemerkt hier immer wieder die Welten, die sich zwischen ihm und seinen Schüler*innen auftun. »Mit Begriffen wie Arbeitsspeicher, Display oder Pixel ist meine Generation noch mitgewachsen. Die Schüler*innen, die ich jetzt unterrichte, sind reine Anwender*innen. Wenn man ihnen zum Beispiel sagt, sie sollen ihr Telefon ausschalten, dann schalten sie es auf stumm und glauben, es ist damit ausgeschaltet. Oder man sagt, sie sollen etwas speichern, und wenn man dann fragt, wo sie es gespeichert haben, haben sie keine Ahnung.«

Die Thematik der Digitalisierung mag zwar vor allem in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben, den Diskurs dazu gab es aber schon in den Nullerjahren. Damals noch geprägt von einer wenig im Austausch stehenden Dualität einer medienbildnerischen und einer informatisch-technischen Perspektive. So gab es in Österreich auch lange keine Positionierung hinsichtlich Medienbildung und/oder/versus informatischer Bildung. Erst mit der Adaptierung einiger Lehrpläne entstanden erste Verknüpfungsversuche von Medienbildung mit Informatik.

Die Kombination beider Disziplinen findet auch Glanzer wichtig: »Wenn man sich ansieht, warum Tiktok so gut funktioniert, dann ist die Antwort der Algorithmus. Bei sehr vielen von diesen Fragen kommt man also sofort wieder in die technische Seite hinein. Das kann man nicht komplett voneinander lösen.« Es ergibt sich somit die Notwendigkeit, Aspekte der digital vernetzten Welt in enger Anknüpfung an Informationstechnologie zu vermitteln.

Der an der Universität Wien lehrende Medienwissenschaftler Thomas Waitz sieht diese enge Verknüpfung eher kritisch. Digitalisierung sei ein kultureller Vorgang und nicht etwas, dessen Bedeutung sich in technischen Zusammenhängen erschließe: »Wo es um technische Vorgänge geht, ist die Rede von der Digitalisierung banal. Es braucht eine kulturwissenschaftliche Perspektive, um zu verstehen, wie sich kulturelle Sinnstiftung durch digitale Medien verändert.«

Wachsender Social-Media-Dschungel

Kritisches Hinterfragen, verantwortungsvolles Nutzen und ein sicherer Umgang sind im wachsenden Social-Media-Dschungel aber nicht nur für die Jugendlichen eine Herausforderung. Auch das Lehrpersonal muss sich hier immer wieder anpassen, wie Glanzer erklärt. »Es ist nicht so wie in der Mathematik, wo man etwas einmal lernt, und das ändert sich dann 1.000 Jahre kaum. Vor allem im Bereich künstliche Intelligenz, wie jetzt zum Beispiel bei Chat GPT, gehen die Entwicklungen sehr schnell.« Es sei daher nicht immer einfach, am Ball zu bleiben, oft lasse er sich neue mediale Trends auch von seinen Schüler*innen erklären.

Bevor das Pflichtschulfach Digitale Grundbildung 2022 startete, durchliefen Schüler*innen ab 2018/19 im Rahmen einer verbindlichen Übung an Mittelschulen und in der Unterstufe der AHS über vier Schuljahre hinweg eine Grundausbildung zum Thema. Dabei konnten Schulen selbst entscheiden, ob sie diese Grundausbildung als eigenes Fach oder fächerintegrativ mit anderen Schulfächern umsetzen.

Die neue Digitale Grundbildung soll nun, so das Ministerium, »die Begleitung von Kindern und Jugendlichen zu einem sicheren, selbstreflexiven, kritischen und kreativ-gestalterischen Medienhandeln« bieten. Auch hier wird erneut auf eine Verzahnung der informatischen Bildung mit der Medienbildung gesetzt. Digitale Medien, so das Ministerium weiter, könnten die Vermittlung von Informatikkonzepten von einer abstrakten auf eine praktische Ebene heben. Umgekehrt brauche es auch Konzepte der Medienbildung, damit sich Jugendliche nicht nur als Medienkonsument*innen verstehen, sondern als an der Medienlandschaft aktiv teilhabende Individuen.

Ständiges Lernen

Thomas Waitz von der Uni Wien sieht darin recht hohe Forderungen an die Schulen: »Es gibt einen Unterschied zwischen der historischen Erwartung an Medienkompetenz im Hinblick auf Fernsehen oder Computerspiele und im Hinblick auf die Digitalisierung. Denn diese betrifft nicht einen Teilbereich kultureller und sozialer Lebenswelt, sondern erweist sich als ein maßgeblich durch große Konzerne getriebenes und an konkrete politische Vorstellungen geknüpftes politisches Projekt, das alle Bereiche des Lebens betrifft.«

Ein didaktisches Prinzip, das in dieser sich ständig ändernden Medienwelt Beständigkeit bringen soll und das auch auf der Website des Ministeriums wiederholt angepriesen wird, ist Computational Thinking. Die Informatikprofessorin Jeanette Wing verwendete diesen Begriff erstmals 2006 und zeigte damit die damals noch oft eingeschränkte Sichtweise von informatischer Bildung auf. Es gehe dabei nicht bloß um das Beherrschen von Programmierfähigkeiten, sondern auch um analytisches Denken, Abstraktionsfähigkeit, Musterkennung und Problemlösefähigkeit. Die bereits erwähnten Kernthemen, die die Digitale Grundbildung behandeln soll.

Wie Computer denken

Computational Thinking soll es den Schüler*innen idealerweise ermöglichen, Mediengestaltung aktiv zu erleben oder die digital vernetzte Welt zu verstehen. Hierbei haben die Schulen wie schon bei der verbindlichen Übung viel Autonomie im Schreiben des Lehrplans. Die Vorgaben sind, dass das Fach von der fünften bis zur achten Schulstufe mit jeweils mindestens einer fixen Stunde im Stundenplan umgesetzt wird und dass die Thematik aus drei Blickwinkeln betrachtet wird: Wie funktionieren digitale Technologien? Welche gesellschaftlichen Wechselwirkungen ergeben sich durch ihren Einsatz? Sowie eine Einweisung in Orientierung, Information und Kommunikation. Weitere Kompetenzen, die das Fach vermitteln soll, sind Produktion, also Inhalte digital zu erstellen und zu veröffentlichen, sowie Programmieren, also Algorithmen zu entwerfen.

Neben dem neuen Schulfach will das Bildungsministerium zudem für Lehrende eine dreistufige Aus-, Fort- und Weiterbildungsinitiative forcieren. Aktuell wird ein Onlinekurs zur Vorbereitung auf den neuen Lehrplan des Pflichtgegenstandes angeboten. Im Studienjahr 2022/23 startete an den Pädagogischen Hochschulen zudem auch ein Hochschullehrgang im Umfang von 30 ECTS. Im Dienst stehende Lehrende sollen so die Lehrbefähigung zum Unterrichten des neuen Pflichtgegenstands erwerben können. Auch Paul Glanzer absolviert gerade eine Ausbildung in Digitaler Grundbildung. Dabei sei laut Glanzer essenziell, »wirklich die fachliche wissenschaftliche Basis zu legen. Es müssen Grundlagen der Informatik drinnen sein sowie Medienwissen und Ethik.« Ebenso wichtig sei aber die Vermittlung von Didaktik: »Wie kann ich die Inhalte am besten mit Schüler*innen thematisieren? Worauf sollte ich da Wert legen? Man sollte einen möglichst großen Methodenkoffer mitbekommen.«

Zu viel Technik?

Kritisch hinterfragen könnte man hier, welchen fachlichen Hintergrund das Lehrpersonal hat und welchen Teilbereichen der Digitalen Grundbildung es daher seine Aufmerksamkeit widmet: 50 Prozent der Lehrpersonen unterrichten auch das Fach Mathematik. Beim integrativen Unterricht zur Digitalen Grundbildung wurde Mathematik ebenfalls am häufigsten als jenes Fach genannt, das sich für eine Kombination der Disziplinen eignen würde. »Mein Eindruck ist, dass das Thema Ausbildung – zumindest hier an der Uni Wien, aber ich höre Ähnliches aus Innsbruck – von der Lehrer*innenbildung und Informatik alleine bespielt wird, die das gerne unter sich ausmachen wollen«, gibt sich auch Thomas Waitz kritisch.

Er sähe das Projekt zum Scheitern verurteilt, erklärt der Medienwissenschaftler weiter, wenn die Vermittlung der sich hier auftuenden Zusammenhänge allein der Informatik überlassen werden würde. Auch wenn es diese als einen Teil des Ganzen unbedingt brauche. »Es würde auch niemand auf die Idee kommen, die Bedeutung einer automobilen Gesellschaft und die Probleme, die das angesichts der Klimakrise verursacht, durch, sagen wir, Ingenieurswissenschaften erklären zu lassen, die Personen ausbildet, die Motoren oder Auspuffrohre entwickeln.«

Glanzers Perspektive ist eine andere: »Ich lege den Fokus stärker auf das Technische, weil das für mich ein persönliches Anliegen ist.« Dass es ein Problem mit einer MINT-Fächer-Dominanz, also Lehrenden vor allem aus den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, gebe, könne er so nicht bestätigen. Er sei an seiner Schule einer der wenigen, die aus der Naturwissenschaft kämen: »Wir haben zum Beispiel auch einen Religionslehrer und eine Deutschlehrerin, die Digitale Grundbildung unterrichten. Es ist also ganz bunt gestreut.«

Auch dass der Lehrplan recht offen bleibt und die Schulen und Lehrpersonen ihre Schwerpunkte frei wählen können, sieht er als Vorteil. »Jede Lehrkraft hat unterschiedliche Stärken. Wenn man ein strenges Curriculum vorgibt, dann würde das den Einstieg ins Unterrichten vielleicht erleichtern. Gleichzeitig würde es aber eben auch Kreativität und tolle Projektideen, die die Lehrkraft entwickeln kann, verhindern.«

Letztlich muss es das Ziel sein, junge Menschen zu mündigen Nutzer*innen digitaler Angebote zu machen. Die Bedürfnisse unterscheiden sich dabei von Individuum zu Individuum, weshalb auch die Werkzeuge, die diesen mitgegeben werden, vielfältig sein müssen. Nur so lässt sich im oft undurchsichtigen digitalen Dickicht die Orientierung bewahren.

Ab dem Schuljahr 2023/24 soll eine Lehrplannovelle auch in den Volksschulen verpflichtenden Unterricht in Informatischer Bildung und Medienbildung bringen.

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