Das babyblaue Containerschiff am Praterstern war sein zweites Zuhause, über 20 Jahre lang war er dort für das Musikprogramm verantwortlich. Er führte den subkulturellen Kulturraum von seinen Anfängen zwischen Kunst- und Konzertlocation bis in die Listen der besten Clubs Europas. Peter Nachtnebel, der Mann mit den Chelsea-Boots und der Panto-Brille, hört auf. Zumindest für jetzt, zumindest im Fluc.
Peter Nachtnebel kommt 1975, ein Jahr vor der Arena-Besetzung, zur Welt. Wie gar nicht so wenige in der Wiener Independent- und Alternative-Szene ist er in einem bürgerlichen Umfeld aufgewachsen. Die Eltern sind Akademiker*innen und arbeiten im medizinischen Bereich. Als Kind habe er sich Hippie-Eltern gewünscht, stattdessen erlebt er früh österreichischen Alltagsantisemitismus: »Ich hatte keine dezidierten Nazi-Großeltern«, erzählt Nachtnebel, »aber weißt eh, ich hab als Kind dauernd die Sprüche gehört – auch von meinem Opa.«
Ein Milieu, in dem zu dieser Zeit in Österreich viele aufwachsen. Ende der 1970er-Jahre dominiert in der Gesellschaft eine Mischung aus »kleinbürgerlichen, katholisch-postnationalistischen Werten«, wie Nachtnebel sagt. Die Waldheim-Affäre wird erst Jahre später eine Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Österreich anstoßen. Wien sei damals eine Stadt gewesen, in der man durch die Straßen geht und Menschen sieht, die cool ausschauen – oder vor denen man sich fürchtet.
Als die Polizei 1983 das autonome Kulturzentrum in der Gassergasse im fünften Wiener Gemeindebezirk räumt, ist Nachtnebel acht Jahre alt. Aus dem Radio knarzen hochpolierte Eighties-Hits genauso wie Ambros, Fendrich und Danzer. Punk kommt dagegen von der Straße. Schließlich habe es in Wien zu dieser Zeit noch lebendige Subkulturen gegeben, so Nachtnebel. Im Straßenbild der 80er seien Skinheads omnipräsent gewesen, genauso wie Mods, die mit ihren Parkas am Schwedenplatz standen. Außerdem habe man häufig Hooligans gesehen. Und eben: Punks, die ganze Häuserwände mit Sprüchen wie »Punk’s not dead« vollgesprayt haben.
Der junge Peter ist vor allem von Iros, Nietengürteln und der lauten Musik fasziniert. »Ich wusste, zu denen will ich gehören, ohne genau zu wissen, wer die Guten oder die Bösen sind.« Schließlich sei es zu dieser Zeit darum gegangen, sich vom Mainstream und der repräsentativen Hochkultur abzugrenzen. »Damit wurde man die ganze Zeit konfrontiert. Entweder über die Medien oder durch das Elternhaus. Ich hab schnell den inneren Drang gespürt, mich auf die Suche nach etwas anderem zu machen.«
1986 diskutiert Österreich über die NS-Vergangenheit von Waldheim, bald darauf putscht sich Haider an die Spitze der FPÖ. »Es war eine heiße Phase – und ich in der Pubertät«, erinnert sich Nachtnebel. »Ich habe alles um mich herum aufgesaugt und das erste Mal bewusst reflektiert, was passiert.« Das ist der Moment, in dem er merkt: Die verschiedenen Subkulturen, die man auf den Straßen sieht, sind nicht gleich. In ihrem Aussehen und ihrem Musikgeschmack grenzen sie sich zwar geschlossen vom Mainstream, aber vor allem voneinander ab.
»Mit einem Mal wusste ich: Die Punks sind leiwand, Nazis die Oaschlöcher.« Es kommt zur Revolution im Kinderzimmer. Nachtnebel lässt sich die Haare wachsen und trägt Dr. Martens. In der Schule wird er dafür verdroschen, von zu Hause zieht er früh aus. Bald verbringt er mehr Zeit in Wohnzimmern von WGs als im Klassenzimmer. Der Austropop der Stunde ist für ihn plötzlich so weit weg wie Rapid heute von der Meisterschaft.
100 Schilling für Nirvana
»Ende der 80er war Wien die östlichste Stadt von Westeuropa. Eine graue Stadt, wie man sie aus den Kottan-Filmen kennt«, so Nachtnebel. Spätestens mit dem Zerfall der Sowjetunion ändert sich das. Wien findet zu seiner politischen Rolle in Europa. Im Rathaus regiert Helmut Zilk, »der beste Bürgermeister, den die Stadt zu dieser Zeit haben konnte«, wie Nachtnebel betont. »Es gab aber auch gute Kulturpolitiker*innen wie Ursula Pasterk, die rote Urschel.« Sie habe viele Dinge möglich gemacht, das Kulturbudget der Stadt in ihrer Amtszeit fast verdoppelt. »Plötzlich habe ich wie viele andere gemerkt: Irgendwie fängt die Stadt grad ordentlich zu brodeln an.«
Mit 14 beginnt Nachtnebel, auf Konzerte in die Arena zu gehen. Er sieht Fugazi und No Means No, die Bands des US-Hardcore-Labels Dischord Records. Bei Nirvana im U4 sei er 1989 übrigens nicht gewesen. »Dafür war ich zwei Jahre später in der Arena bei ihnen. Ich hab einen Security mit 100 Schilling geschmiert und sah das gar nicht so legendäre Konzert in der großen Halle.«
Zur selben Zeit entwickeln sich in Wien neue Locations, Plattenläden und Labels. War die Stadt zuvor dark, Eighties, Underground, werden die Konzerte auf einmal bunter. »Man sah immer weniger Leute, die aussehen wollten, als hätten sie bei den Stooges gespielt. Außerdem verschwanden die Punks auf einmal aus dem Straßenbild.«
Während der Sommerferien schleppt Nachtnebel Betonsäcke auf Baustellen in Wien, um sich ein Interrail-Ticket leisten zu können. Er reist durch Europa, fährt zum Camden Market nach London und ins Melkweg nach Amsterdam. »Ohne Bild, man hatte ja nur den Mythos«, wie er sagt. Mit zurück nach Wien bringt er neue Platten und Fanzines – die Währung der Subkultur, denn: »Es war eine Zeit, in der man wissen musste, wie man zu den Dingen kommt. Deshalb hab ich mir musikalisch alles reingezogen, was ich bekommen konnte.«
Heute wischt man drei Mal übers Smartphone, um sich eine Noise-Rock-Band aus Dschibuti reinziehen zu können. Anfang der 1990er ist die Informationslage so dünn wie eine Gitarrensaite. Der Westbahnhof mit seinen Trafiken sei ein Fixpunkt gewesen. »Ich hab dort den Melody Maker, den New Music Express oder das Spex gekauft. Der Falter als linke Agitationspostille war für uns auch wichtig«, so Nachtnebel. »Und natürlich: die ›Ö3 Musicbox‹. Werner Geier, Fritz Ostermayer, Walter Gröbchen und Martin Blumenau. Die Typen haben uns die Welt erklärt und das Richtige für uns ausgesucht.«
Allerdings sei man auch an anderen Orten auf Insider-Wissen aus dem Underground gestoßen. »Wir haben oft Schule gestangelt und sind im Kaffee Alt Wien gesessen. Irgendwann kam der Pranzl mit neuen Skug-Ausgaben hereinspaziert. Wenn im Heftl stand, dass es ein leiwandes Konzert geben wird, sind wir zu Rave Up Records, haben die Platten angehört und dann entschieden, ob wir unser Geld für die Konzertkarte ausgeben.«
Es ist eine Zeit, in der Bands Messias-Charakter haben und Konzerte wie Messen sind, erinnert sich Nachtnebel. Maische, die frühe Band von Christian Fennesz, sei eine wichtige Gruppe gewesen. Sonic Youth sowieso. Mit Freunden eifert er den Vorbildern nach, lässt Elemente von Polka in den eigenen Gitarrensound einfließen. »Unsere Band hatte verschiedene Namen, ich will keinen davon öffentlich nennen«, zögert Nachtnebel. »Nur so viel: Es gab noch kein Internet, in dem man es dokumentieren hätte können. Zum Glück!«
Melancholie und »Musicbox«
Als 16-Jähriger merkt Nachtnebel, dass er die Vergangenheit nicht mit drei Akkorden wiederbeleben kann. Punk ist tot. Die Hausbesetzungen in der Gassergasse und der Aegidigasse liegen Jahre zurück. Aus der Erkenntnis, dass das revolutionäre Potenzial der vergangenen Popkultur nicht wiederholbar ist, sei eine »gewisse Wehmut« entstanden. Man habe schließlich zu jenen Leuten aufgeschaut, die dabei waren. Nachtnebel: »Ich war voller Ehrfurcht für sie, weil sie ein Arena-punkiges Wien miterlebt haben, für das ich ein paar Jahre zu jung war.«
1993 schreibt sich Nachtnebel auf der Uni Wien ein. Er studiert Politikwissenschaft und Geschichte, weil er Marx, Bourdieu und anarchistische Literatur in die Hände bekam. Vor 16 Uhr habe man ihn aber selten in der Vorlesung gesehen. Häufiger sitzt er in verrauchten Beisln, wo John-Lennon-Verschnitte über die neuesten Entwicklungen im Kapitalismus rezitieren. Außerdem sei er zur selben Zeit bereits im Funkhaus unterwegs gewesen. »Unmittelbar nach der Matura hat ein Freund ein Praktikum bei Radio Wien gemacht. In der Kantine traf er Fritz Ostermayer. Weil der Freund das richtige T-Shirt trug, hat ihn Fritz gefragt, ob er eine ›Musicbox‹ gestalten will. So ging das los.«
Will Oldham, den heute viele als Bonnie »Prince« Billy kennen, habe Nachtnebel damals als erster Radiomacher in Österreich gespielt. Daneben sei Techno von Tunakan durchs Küchenradio gepfiffen. »Eine wilde Mischung, für die wir gutes Feedback bekamen.« Deshalb ist Nachtnebel, als 1995 FM4 on air geht, mit dabei. »Und ich wäre wie viele andere der ersten Stunde noch immer dort, allerdings herrschte in der Redaktion eine dermaßen ungute Stimmung, dass ich nach kurzer Zeit abgesprungen bin.«
Nachtnebel tauscht das Mikrofon gegen die Matrikelnummer. Den Hörsaal sieht er trotzdem nur selten. Schließlich kommt gerade etwas Neues in Wien auf, für das manche bereits ihre Tocotronic-Shirts vergessen: Techno. »Das war originär und frisch, so etwas wie der neue Punk«, erinnert sich Nachtnebel. »Ich hatte erstmals das Gefühl, Teil einer Bewegung zu sein.« Für ihn, der immer nur Teil einer Jugendbewegung sein wollte, kommt die Revolution aus dem Subwoofer gerade recht. Mit Techno entdeckt er die Stadt neu. In abgelegenen Fabrikhallen und alten Schuppen erobert sich eine Szene neue Räume. »Etwas, das ich mehr als interessierter Zeitgenosse verfolgte und weniger, weil ich nächtelang im Finsteren tanzen wollte.« Schließlich sei der anspruchsvolle Techno bald verschwunden gewesen. »Es gab nur noch Gabber und Happy Hardcore. Das war nichts für mich.«
Obwohl ihn das Vierviertelstampfen längst nicht so interessiert wie Gitarrenwände und Verstärkertürme, organisiert Nachtnebel 1996 einen eigenen Rave am Matzleinsdorfer Platz. Der Vater einer Bekannten habe dort eine Halle besessen. Unter dem Vorwand, eine Geburtstagsfeier zu veranstalten, sei man zu seiner Genehmigung gekommen. »So kam ich in die Veranstaltungsszene. Ich musste mir das erste Mal Gedanken machen: Wie organisiert man eine Anlage? Wo druckt man Flyer? Wer bringt die Getränke?«
Um 1 Uhr Früh sprengt die WEGA das Geburtstagsfest. »Irgendjemand ist draufgekommen, dass es sich bei unserem Event weniger um einen Geburtstag und mehr um einen Rave handelt, bei dem 400 Leute auf Ecstasy abgehen«, so Nachtnebel. Dass es eine Spezialeinheit auf ein paar harmlose Raver abgesehen hat, habe aber gezeigt, dass die Stadt ein Exempel statuieren wollte. Bald findet Techno seltener halblegal in Fabrikhallen statt. Es kommt zu einem Rückzug in die Clubs. Die Entdeckung neuer Räume wird vom Trockeneisnebel verdeckt.
Nachnebel belegt internationale Politik als Studienschwerpunkt, will in den Journalismus. Sein Wunschressort: die Außenpolitik. »Um überhaupt reinzukommen, hab ich ein Volontariat bei den Niederösterreichischen Nachrichten gemacht. Viel Außenpolitik hab ich dort aber nicht gesehen. Vielmehr hab ich in den Pausen präpotent Die Zeit gelesen. Da haben’s gemerkt, dass ich nicht der Richtige für das Ressort Hollabrunn bin.«
1999 lässt Nachtnebel den Lokaljournalismus hinter sich. Er landet beim Standard – in der Außenpolitik. »Plötzlich war ich mittendrin. Ich hab mit dem damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, ein Interview geführt und mit der nach vorne pushenden Eva Glawischnig gesprochen. Außerdem saß ich oft in der Hofburg neben der damaligen Außenministerin Benita Ferrero-Waldner. Das war schon spannend!«
Von der Hofburg in die Spex-Charts
Trotzdem verlässt er den Standard nach wenigen Monaten. Für die Arbeitszeiten und den Stress des tagesaktuellen Journalismus sei er nicht geeignet gewesen. »Ich hab gemerkt, das geht nicht.« Nach Tocotronic-Reviews und einem Bericht über die Blues-Szene in Chicago, veröffentlicht im Presse Schaufenster, landet Nachtnebel über Umwege bei einem alten Bekannten: dem Skug.
Das älteste Musikmagazin Österreichs wird zu einem Sprungbrett. Nachtnebel besucht für das Skug 2002 die Gründungssitzung des Fluc, wird Mitglied – und bleibt. »Anfangs standen wir hinter der Bar, haben die Tontechnik gemacht und dafür gesorgt, dass die Band auf der Bühne steht«, beschreibt er den DIY-Spirit der Gründungszeit. In den ersten Jahren wandeln sich die Räumlichkeiten permanent. Das Fluc wandert in die Mensa, zieht ins Exil, erfindet sich am heutigen Standort neu. Eine Konstante: Peter Nachtnebel, der bald internationale Acts ins Fluc holt.
Weil in Wien Mitte der Nullerjahre ein musikalisches Vakuum herrschte – Techno war vorbei, der Retro-Indie blinzelte gerade erst um die Ecke – stößt das Konzept auf fruchtbaren Praterboden. Plötzlich steht das Fluc als einer der wichtigsten europäischen Musikorte in den Charts der wichtigen Popkulturzeitschrift Spex. Über die Jahre seien die wildesten Dinge passiert. Nicht über alle müsse man reden, so Nachtnebel. Der Mythos gehöre zum Fluc dazu. Der Rest sei Geschichte. Zumindest für jetzt. Zumindest im Fluc.
Wer sich in der Romantisierung der popkulturellen Vergangenheit verlieren will, dem sei die gerade erschienene Doktorarbeit von Heinrich Deisl empfohlen: »Wiensounds. Topografie Wiener Soundkulturen 1976 bis 1995« findet man überall dort, wo man 282-seitige Dissertationen bekommt.