Screen Lights: Haube Liebe Hoffnung – »The Bear« von Christopher Storer

Christoph Prenner bewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber. Diesmal schwärmt er von der Serie »The Bear«, die im Eiltempo vom Feuilletonliebling zum veritablen Popkulturphänomen avancierte und nun in ihre zweite Spielzeit geht.

© FX Networks — Jeremy Allen White als Sternekoch in »The Bear«

Sie sind überall und in der Überzahl. Haben mein ganzes Gesichtsfeld in Beschlag genommen. Starren mich stumm an, stumm, aber unerbittlich. Bunt, aber bedrohlich. Wollen etwas, wollen es bald, am liebsten sofort. In stattlicher Zahl haben sie sich an den Rändern meines Bildschirms niedergelassen, ach, was heißt: mit unmissverständlichen Botschaften an diesen angesaugt: »Redaktionsschluss« steht da auf dem einen, gelben, »Druckabgabe« auf einem anderen, roten – jeweils verknüpft mit Terminen, die entschieden näher rücken. Auf einem lichtblau leuchtenden Post-it im rechten oberen Screen-Eck steht dann: »Abgabe Kolumne The Gap! 200. Ausgabe!!« Drei Rufzeichen gleich, hui. Das muss dann ja was richtig Besonderes werden. Bis, äh, morgen. No pressure, no pressure at all.

Hm, aber vielleicht erst mal noch eine Folge von »The Bear« anschauen, bevor ich dann wirklich, wirklich loslege? Warum denn nicht! Ich prokrastiniere hier aber keineswegs, ich recherchiere – und zwar an einer echten Qualitätsquelle: Immerhin liefert die Serie, die im Eiltempo vom Feuilletonliebling zum veritablen Popkulturphänomen avancierte und nun in Spielzeit zwei geht, erstklassigen Anschauungsunterricht im Umgang mit Hochdrucksituationen. Schließlich steht hier die nächste Deadline üblicherweise nicht erst in einigen Tagen, sondern schon in wenigen Minuten an.

Hölle hinter den Herden

Ab der ersten Sekunde der sich am kollektiven nervlichen Kollaps entlanghantelnden Pilotfolge stößt uns die Show hinein in einen Mikrokosmos, in dem Stress gleichermaßen das Grundrauschen ist: die Welt der Gastronomie, in der hinter den Herden habituell die Hölle los ist. In der jeder jeden stets »Chef« ruft, in der hektisch Handlungsanweisungen durch die Küche jagen, die weder Protest noch Zögern dulden, in der unablässig eine flirrende Spannung in der Luft liegt, die suggeriert, dass hier alles auf dem Spiel steht. Denn das tut es tatsächlich, vor allem für Sternekoch Carmy (Jeremy Allen White), der aus der großen, weiten, mit Renommee lockenden Welt der Haute Cuisine in den familieneigenen Sandwichladen in Chicago zurückgekehrt ist, um diesen nach einem tragischen Ereignis vor dem Untergang zu retten.

Doch auch wenn »The Bear« das strapaziöse, chaotische Wesen der Arbeitswelt Gastronomie mit fahriger Kamera und rastlosem Tempo einzufangen weiß wie kein fiktionales Format zuvor, ist dies nicht das einzige Atout der Serie von Christopher Storer. Denn die Ruhe nach dem initialen Sturm offenbart eine thematisch komplexe, von bestechend authentischen Charakteren (MVPs: Ebon Moss-Bachrach als cholerischer Cousin Richie und Ayo Edebiri als ehrgeizige Souschefin Sydney) bevölkerte und von geschliffenen Dialogen befeuerte Workplace-Dramedy, die mit einer unmissverständlich humanistischen Botschaft endet: Die vom Perfektionismus getriebenen Mitglieder dieser bunt zusammengewürfelten Ersatzfamilie erkennen zu guter Letzt, dass sie sich erst einmal gegenseitig schätzen lernen müssen, damit schließlich auch ihre zusammen zubereiteten Gaumenfreuden geschätzt werden können. Eine Einsicht, mit der auch die finale Wendung der Auftaktstaffel (die Spätentschlossenen zuliebe nicht gespoilert werden soll) einhergeht.

Zweiter Gang, erweitertes Rezept

Ab 16. August auf Disney+ kredenzen Storer und sein Schreibteam nun den zweiten Gang von »The Bear«. Ihr Erfolgsrezept haben sie an signifikanten Stellen adaptiert und es dabei um frische, ungeahnte Geschmacksnoten erweitert. Die mit Blut, Schweiß und Tränen ausgefochtene Schlacht in der Küche, die immer ein Kampf um den Erhalt dieser bestimmten Küche war, ist nun dem Ringen um eine wirklich neue Küche gewichen. Ein Gourmettempel auf Michelin-Stern-Niveau will aus der Taufe gehoben werden. Ein Statement-Restaurant, das Talenten und Träumen der Truppe gerecht wird.

Die Anspannung und die Angst vor dem Scheitern haben sich damit zweifellos bloß auf andere Spielfelder verlagert: Mit warnendem Nachdruck werden Kalender, Whiteboards und, ja, auch Post-its in den Fokus gerückt, die an all die Aufgaben und Notwendigkeiten (Brandschutzprüfung! Genehmigung! Rechnung!) erinnern sollen, mit denen sich Carmy und Co angesichts des gnadenlos näher rückenden Eröffnungstermins noch herumschlagen müssen. An der Wand leuchtet indes das Credo »Every second counts«: Mahnung und Ansporn zugleich.

Kommunale Selbstverwirklichung

Mit den Ambitionen der Küchencrew sind auch jene der Serie gewachsen, bemerkenswerterweise einhergehend mit einer entspannteren Inszenierung. Die bisherige Intensität – mal beklemmend, mal berauschend – wurde zugunsten eines breiteren Horizonts und einer damit verbundenen stärkeren Hinwendung zu den einzelnen Ensemblemitgliedern etwas zurückgefahren. Mehrere Episoden widmen sich nun bestimmten Figuren, ihren geografischen wie emotionalen Reisen, ihrem Innenleben – was der Erzählung eine zusätzliche Dimension verleiht, sie reicher und raffinierter macht. Und diese Figuren lernen, dass nicht unbedingt Messer im Spiel sein müssen, damit für einen selbst alles auf Messers Schneide stehen kann. Der Ausbruch aus Alltag und Routine, das Hinausströmen in die Welt geht unweigerlich mit einer verstärkten Selbstreflexion einher, die den Status quo mit oft lange aufgeschobenen Fragen konfrontiert.

Mit Empathie für seine liebenswerten, unperfekten Charaktere findet »The Bear« für jeden von ihnen individuelle Antworten, die dennoch einen gemeinsamen Nenner haben, der die in der ersten Staffel gewonnene Erkenntnis noch deutlicher herausarbeitet: Der Weg zur Selbstfindung, zur Selbstverwirklichung kann letztlich nie eine Einbahnstraße sein. Alles Talent, alle Leidenschaft dieser Welt wäre wenig wert, wenn es nicht andere Menschen gäbe, die an einen glauben, die einen mitziehen, die einem helfen zu wachsen – auch über sich selbst hinaus. Man muss sie nur finden und zu würdigen wissen. Denn sie sind nicht überall und auch nicht in der Überzahl.

Christoph Prenner plaudert mit Lillian Moschen im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Serien­geschehen. Unser Kolumnist ist per E-Mail unter prenner@thegap.at zu erreichen bzw. auf Twitter unter @prennero zu finden.

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