Screen Lights: Überlang? Überschwang! – »Killers of the Flower Moon« von Martin Scorsese

Christoph Prenner bewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber. Diesmal schwärmt er von Martin Scorseses neuestem Epos »Killers of the Flower Moon«, von dessen 206 Minuten er keine einzige hätte missen wollen.

© Paramount Pictures — Lily Gladstone und Leonardo DiCaprio in »Killers of the Flower Moon«

Wenn es denn schon so sein soll, dass ich ausgerechnet am letzten glutheißen Sommer­tag, natürlich völlig selbst­verschuldet, hier ein paar Worte verlieren (hoffentlich finde ich danach auch wieder ein paar neue) und mir einen Text aus den Fingern saugen darf (anatomisch funktioniert das angeblich so), dann möchte ich diese missliche Lage wenigstens dazu nutzen, auch gleich eine Sommerloch­story noch ein wenig weiter­köcheln zu lassen. Denn nicht nur beispiels­halber im Politik- und Gesellschafts­journalismus, nein, auch in der über Kultur schreibenden Zunft weiß man angesichts des Aufeinanderprallens von meteoro­logischem Ausnahme­zustand und thematischer Leere ja oftmals nicht so recht, woher der »Content« kommen soll. So oder so ähnlich muss es dem Spiegel-Redakteur gegangen sein, der sich jüngst unter der Überschrift »Hört das denn nie auf?« über die immer länger werdenden Laufzeiten von Kinofilmen erregte: »eine Tortur«. Oha.

Länge ohne Längen

Sicherlich fanden es in diesem Sommer einige befremdlich, dass »Mission: Impossible – Dead Reckoning Part One« (allein schon der Titel!) 163 Minuten brauchte, um das eigentliche Finale für den kommenden Film einzuleiten. Und manch einer wird nicht zu Unrecht anmerken, dass mittlerweile jede Minute eines Marvel-Films eine zu viel sein kann – noch lange bevor der jeweilige generische CGI-Showdown überhaupt begonnen hat. Etwas skurril wurde es allerdings, als besagter Redakteur auch »Killers of the Flower Moon«, das neueste Werk von Martin Scorsese, das nach seiner Premiere in Cannes ab 19. Oktober auch in unseren Kinos zu sehen ist, ins Treffen führte. Schließlich war der Regisseur noch nie dafür bekannt, seine Kunst besonders kompakt und schnell konsumierbar einzurichten.

In »Killers of the Flower Moon« spielt Martin Scorsese bis zum Ende geschickt mit Genreerwartungen. (Foto: Paramount Pictures)

Sein Oscar-Triumph »The Departed« nahm 151 Minuten in Anspruch, sein größter Kassenerfolg »The Wolf of Wall Street« 180, schon »Casino« brauchte 1995 drei Stunden für seine umfangreiche Erzählung, »The Irishman« zuletzt dreieinhalb – so lange wie jetzt »Killers of the Flower Moon«. Ja, diese Arbeiten gehen durchaus schon mal etwas langsamer voran, langatmig sind sie jedoch tatsächlich nie.

Die beiden letztgenannten, jüngeren Werke nehmen in dieser Aufzählung freilich eine gewisse Ausnahme­stellung ein, die die Diskussion um die (Über-)Länge etwas komplizierter macht – wurden sie doch beide von Streaming­anbietern in Auftrag gegeben, deren Interesse in erster Linie dem Schauen in den eigenen vier Wänden gilt – das lässt dann auch selbst gewählte Unter­brechungen zu – und weniger dem Erleben im Kino. Denn auch wenn die Regieikone das natürlich nicht gerne hören wird, muss selbst er sich natürlich der normativen Kraft des Geld­faktischen beugen, die besagt, dass in der aktuellen Lage der Industrie auch er epische Stoffe nur noch von Netflix (wie bei »The Irishman«) oder im aktuellen Fall von Apple als üppig ausgestattete Langfilme finanziert bekommt. Zumal sich die umfang­reiche Sachbuch­vorlage »Killers of the Flower Moon: The Osage Murders and the Birth of the FBI« von David Grann durchaus für eine Binge-Marathon-gerechte Miniserie angeboten hätte – und in neun von zehn Fällen wohl auch eine geworden wäre, hätte nicht ausgerechnet Scorsese andere Pläne gehabt.

Der Western täuscht

Doch nicht nur das Format eines seiner mutmaßlich letzten Werke (»Ich will Geschichten erzählen und habe keine Zeit mehr«, klagte er kürzlich) hat der 80-Jährige nach eigenem Ermessen bemessen, sondern auch den Fokus entsprechend angepasst. Konkret bedeutet dies, dass die im Buch zentrale Ermittlungs­arbeit des frühen FBI im Fall der Osage-Morde in den 1920er-Jahren, bei denen Dutzende von Indigenen im Rahmen einer großen Verschwörung zur Aneignung ihres ölreichen Landes kaltblütig ermordet wurden, in seiner Adaption nur noch eine späte, wenngleich gewichtige Randnotiz darstellt.

Der rote Faden des Films ist nun vielmehr die Ehe zwischen der Erbin eines dieser riesigen Reservats­vermögen (eine Offenbarung: Lily Gladstone) und einem charmanten Chauffeur-Feschak (Leonardo DiCaprio), der sich – ebenso einfältig wie moralisch wankelmütig – von seinem doppel­züngigen Onkel (Robert De Niro, endlich wieder in finsterer Hochform) mit Dollarzeichen in den Augen alsbald zu unvorstell­baren Grausam­keiten verführen lassen wird.

Als Maestro Martys erster Western – wie einst kolportiert wurde – geht »Killers of the Flower Moon« trotz der betörend sand­staubigen Sepia-Shots von Kamera­genie Rodrigo Prieto dabei allerdings nur bedingt durch. Doch auch wenn sich die Handlung anschickt, die Spuren eines jener Gangster­epen aufzunehmen, für die der Regisseur seit jeher steht, werden wir ein wenig hinters Licht geführt.

Seine wahre Natur offenbart der Film erst auf den letzten Metern, wenn Scorsese mit dem Pinsel des Ehedramas ein erschütterndes Sitten­gemälde auf die Leinwand (wirklich nur ausnahmsweise: auf den Bildschirm) zaubert und auf diese Weise eine ur­amerikanische Tragödie gleichsam auf einer bedrückend persönlichen Ebene aufblättert und eindringlich kontextualisiert. Also, ja: Es mag tatsächlich zahlreiche Minuten dauern, bis in diesem Epos das korrupte, kalte Herz von Kapitalismus und Kolonialismus dergestalt schonungslos offengelegt wird. Selbstredend hätte man aber auch keine einzige von ihnen missen wollen.

Christoph Prenner plaudert mit Lillian Moschen im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Serien­geschehen. Unser Kolumnist ist per E-Mail unter prenner@thegap.at zu erreichen bzw. auf X (vormals Twitter) unter @prennero zu finden.

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