Christoph Prenner bewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber. Angesichts der Serie »Sugar« stellt er sich Fragen nach dem Was und dem Wie.
»Das Wie ist immer wichtiger als das Was.« So lautet der Schlüsselsatz aus dem kanonischen Essay »Notes on Film Noir«, in dem Paul Schrader 1971 in seiner Auseinandersetzung mit der Genese und den Charakteristika dieser Bewegtbildgattung zum Schluss kommt, dass es darin gemeinhin mehr um den Stil als um den Inhalt gehe. Diese im Kern immer noch stichhaltige Beobachtung des legendären Drehbuchautors (»Taxi Driver«) und Regisseurs (»American Gigolo«), der seine Rezensionen mittlerweile recht launig und anlassbezogen via Social Media verbreitet, kam mir jüngst an einer entscheidenden Stelle der frischen Neo-Noir-Serie »Sugar« unvermittelt wieder in den Sinn.
Rasch wird bei dieser Produktion aus dem Hause Apple TV evident, dass sie sich nicht damit begnügt, nur tief in der Tradition des Film noir verwurzelt zu sein: Sie will auch selbstbewusst zeigen, dass dessen Meilensteine wie »Sunset Boulevard«, »The Killers« oder »The Big Heat« das Fundament bilden, auf dem sie ihre Geschichte um den Privatschnüffler John Sugar (Colin Farrell) aufbaut. So werden markante Szenen aus diesen und anderen Klassikern des Genres (das Schrader übrigens nicht als solches bezeichnet wissen will – I disagree) wiederholt in die fortlaufende Handlung geschnitten. Gegenwart und Vergangenheit treten gleichsam in einen Dialog. Geradezu, als wolle man die Gedankenwelt des Protagonisten erfahrbar machen, der nicht nur unverschämt cool und mit allen Wassern gewaschen ist wie Philip Marlowe und Sam Spade, sondern diese als »film buff« auch aktiv verehrt. Dass ihr Wiedergänger, dessen Domäne das Aufspüren vermisster Personen ist, Bibeln der Cinephilie wie Sight and Sound oder Cahiers du cinéma bei sich herumliegen hat, passt da nur allzu gut ins Bild.
Ein zitterndes Händchen
Wie ein Zeitreisender aus längst vergangenen Tagen kurvt dieser Sugar nun in feinstem Zwirn in seinem Retro-Corvette-Cabrio durch die sonnengeküssten Hügel Hollywoods. Ja, dieser verblüffend sanftmütige und unzynische Antiheld ist der Aura der ewigen Traumfabrik Los Angeles unverkennbar erlegen – allen unübersehbaren Kehrseiten zum Trotz. So nimmt er, ohne zu zögern den Auftrag eines legendären Filmmoguls an, dessen verschwundene Enkelin ausfindig zu machen. Aber ist das in der Tradition des Film noir nicht vielleicht genau jener Auftrag, den er besser abgelehnt hätte? Immerhin weist die Geschichte der Vermissten Parallelen zu einem unterdrückten Ereignis aus seiner eigenen Vergangenheit auf. Und dann ist da noch ein rätselhaftes Nervenleiden, das ihm immer häufiger Schwindelanfälle und ein regelmäßig zitterndes Händchen beschert …
Apropos Händchen: Sugars Verständnis für das Metier und seiner stilsicheren Eleganz wird erfreulicherweise auch die gestalterische Umsetzung der Show gerecht. Das Buch von Mark Protosevich besticht durch eine süchtig machende Story und geschliffene Dialoge. Die geschmeidige Inszenierung von u. a. Fernando Meirelles (»City of God«) transportiert mit schrägen Kameraperspektiven, verblüffenden Schnitten und vielen Close-ups eine Atmosphäre der Unsicherheit, die auch den Meisterwerken der »Schwarzen Serie« gut gestanden hätte. Anders als neulich die fatal fehlgeleitete Noir-Legenden-Wiederbelebung »Monsieur Spade« mit Clive Owen schafft es »Sugar« damit, das an sich reibungslos rollende Genrerad stilistisch integer und doch zeitgemäß auf die Straße zu bringen, ohne es gleich neu erfinden zu wollen … zumindest so lange, bis das dann doch versucht wird.
Kühn und genresprengend
Womit wir wieder bei der eingangs aufgestellten These wären, dass das Wie im Film noir immer wichtiger ist als das Was. Lässt sich diese Annahme auch dann noch aufrechterhalten, wenn dieses Was Seiten aufschlägt, die sich nicht mehr eindeutig dem Genre zuordnen lassen? Denn hinter all dem kunstvollen Wie von »Sugar« verbirgt sich wie bei jedem guten Noir selbstverständlich ein Was in Form eines größeren Geheimnisses, das mit allerlei raffinierten Ablenkungsmanövern gehütet wird – bis es sich schließlich durch eine ebenso raffinierte Wendung offenbart. Diese ereignet sich hier nach drei Vierteln der ersten Staffel und ist zweifellos geeignet, ungläubige »What the fuck?«-Rufe vor den Abspielgeräten zu provozieren. Dieser kühne, genresprengende Einfall dürfte ein faszinierendes Paradoxon bereithalten: Je nach individueller Stimmung und Lesart ist nach diesem Twist entweder nichts mehr so, wie es vorher war – oder es hat sich im Grunde nichts Wesentliches am (brillanten) zuvor Gesehenen geändert. Je nachdem, ob man dem Wie oder dem Was mehr Bedeutung beimisst eben. Ich für meinen Teil möchte mich der zweiten Lesart anschließen – und ich denke, dass der gute alte Mr. Schrader das auch so sehen könnte. Er wird es uns bestimmt demnächst wissen lassen.
»Sugar« läuft seit 5. April 2024 auf Apple TV+.
Christoph Prenner plaudert mit Lillian Moschen im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Seriengeschehen. Unser Kolumnist ist per E-Mail unter prenner@thegap.at zu erreichen bzw. auf X (vormals Twitter) unter @prennero zu finden.