Der edle Weiße, der im Dschungel über die Affen herrscht, ist eine Ikone der Popkultur, Schon sein Name – „Tarzan“ – klingt wie der eines antiken Halbgottes. Doch nur wenige kennen das literarische Original, mit dessen Erscheinen vor genau 100 Jahren eine unendliche Bild-Geschichte ihren Anfang nahm.
Es gibt zumindest drei plausible Erklärungen dafür, warum zwar jedes Kind „Tarzan“ kennt, aber kaum jemand weiß, dass Tarzan ursprünglich eine literarische Figur war. Die erste davon gilt nur für den deutschen Sprachraum und ist ziemlich simpel: Die aktive Schaffensphase des Schriftstellers und Tarzan-Schöpfers Edgar Rice Burroughs ist in etwa deckungsgleich mit jenem Zeitraum, in dem hier die Nationalsozialisten herrschten. Deren pervertiertes Deutschtum war nicht gerade empfänglich für Einflüsse der US-amerikanischen Unterhaltungskultur. Womit wir auch schon bei der zweiten Begründung wären: Bei den abenteuerlichen Geschichten von Tarzan handelt es sich um Unterhaltungskultur in Reinform. Burroughs schrieb seine ersten Storys in finanzieller Not. Nachdem unzählige Versuche, sich eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen gescheitert waren, verfolgte seine Schriftstellerei ein einziges Ziel: Er wollte damit Geld verdienen.
Ein Schundroman aus 1912
Die ersten Tarzangeschichten erschienen 1912 als Abdruck im „All Storys Magazine“, einem preiswerten Sammelband an Schundgeschichten. Obwohl sehr schnell sehr erfolgreich, wurden diese doch niemals als Literatur gelesen, sondern höchstens als trashiger Zeitvertreib – eben als „Pulp Fiction“. Hinzu kommt, Erklärung Nummer drei, dass die Figur Tarzan sehr schnell ein Eigenleben entwickelte und weit über die 24 Romane hinauswuchs, die Edgar Rice Buroughs seinem Dschungelhelden insgesamt gewidmet hat. Zwar wurden davon 15 Millionen Bücher verkauft. Doch das ist vergleichsweise nichts, wenn man dem die Liste der Internet Movie Database gegenüberstellt. Bislang ist im Schnitt jedes Jahr eine Verfilmung des Stoffes passiert. Binnen 100 Jahren wurde die Geschichte vom Menschenkind, das im afrikanischen Dschungel von einer Affenhorde aufgezogen wird, also einhundert Mal fürs Kino oder Fernsehen adaptiert.
Bildmächtig
Hinzu kamen unzählige Comic-Fassungen. Eingeprägt haben sich vor allem jene des Zeichners Hal Foster (auch bekannt für „Prinz Eisenherz“) und die des legendären Comic-Künstlers Burne Hogarth. So war „Tarzan“ binnen weniger Jahre und Jahrzehnte zu einem bildmächtigen Mythos geworden, an dem sein Schöpfer prächtig verdiente. Nicht erst seit Disney sich (ab 1999) in bislang drei Zeichentrickfilmen des Tarzanstoffes angenommen hat ist dieser zuvorderst mit Bildern verknüpft. Vor allem auch: mit Mannsbildern.
Die Personifikation von Tarzan schlechthin ist Johnny Weissmüller. Der als Kind mit seinen Eltern aus dem damaligen Österreich-Ungarn in die USA ausgewanderte Schwimmathlet und Olympiasieger ist der bekannteste Tarzan-Darsteller aller Zeiten. Zwölf Mal schwang er sich als Affenmensch von Liane zu Liane. Seine schauspielerischen Leistungen mögen bescheiden sein. Er verlieh Tarzan dennoch einen speziellen Touch und entwickelte den Charakter weiter. Als begeisterter Jodler kreierte Weissmüller den heute typischen Tarzan-Schrei, über den dieser mit der Dschungeltierwelt kommuniziert. Er (beziehungsweise seine deutsche Synchronstimme) sprach auch den legendären Satz: „Ich Tarzan, du Jane.“
Umgekehrt ist Weissmüllers wortkarge Hollywoodkarriere tragisch mit der Affenmenschenrolle verknüpft. Nach 1948 glückte ihm keines seiner Engagements, bis diese schließlich ganz ausblieben. 1984 starb er verarmt. Auf seinem Grab im mexikanischen Akapulko finden sich bloß drei Worte: Johnny Weissmüller, Tarzan.
Es gibt wohl niemanden, der alle Filmfassungen gesehen hat. Im direkten Vergleich zum Werk Weissmüllers und auch den Disney-Interpretationen der vergangenen Jahre lohnt allerdings die Lektüre des Ur-Tarzan sehr wohl. Denn er ist überaus fantasievoll und von überraschend komplexer Natur. Dabei ist Tarzan zwar weniger „literarisch” als manch abenteuerlicher Altvorderer, dafür aber deutlich radikaler als etwa Robinson Crusoe. Denn während der Gestrandete Robinson versucht, die Zivilisation aufrecht zu erhalten, um Mensch zu bleiben, weiß Tarzan Anfangs nicht einmal, dass er ein Mensch ist. Er zivilisiert sich gewissermaßen selbst, wir begleiten ihn bei seiner Menschwerdung.
Affenwaise
Tarzan wird im afrikanischen Dschungel geboren, wo meuternde Seefahrer seine Eltern mit all ihrem Hab und Gut aussetzen. Die Mutter wird wahnsinnig, der Vater zimmert seiner Familie zum Schutz ein Baumhaus, in dem er auch die in Kisten nach Afrika mitgebrachte Bibliothek einrichtet. Als Tarzan ein Jahr alt ist, wird der Vater von einem wütenden Alphaaffen getötet. Von dessen Stamm wird das Menschenkind adoptiert, von einer Affenmutter, die soeben ihr Junges verloren hat. Noch weiß das Kind nicht, dass er ein britischer Lord ist. Er wähnt sich als Affe. „Tar-Zan“ rufen ihn die Seinen. Das bedeutet „weiße Haut“: „Der Sohn eines englischen Lords und einer englischen Lady wird von Kala, der gewaltigen Affenmutter, gestillt.”
Wolfskinder
Zwar scheut der Autor weder Kitsch, noch kräftige Sprache. Doch seine Erzählung des Menschenkinds, das im Urwald von Tieren aufgezogen wird, ist weit weniger romantisierend als das zwanzig Jahre davor erschienene „Dschungelbuch“ Rudyard Kiplings. Das Menschenjunge „Mogli“ hat außer Shirkan, dem Tiger vor allem Freunde. Bei Tarzan ist der Dschungel noch richtig wild, die Welt feindlich und die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation verschwimmt ständig. Tarzan selbst, halb Affe, aber doch Mensch, ist genau das Sinnbild für die Hin- und Hergerissenheit seiner Zeit. „Tarzan von den Affen besaß kein sentimentales Gemüt. Er wusste nichts von Menschenliebe. Alle Wesen außerhalb seiner Stammes waren Todfeinde, von wenigen Ausnahmen wie Tantor, dem Elefanten abgesehen“, heißt es da. Doch gleichzeitig bringt sich Tarzan selbst das Lesen bei, wendet er sich angewidert vom Kannibalismus ab, lernt er schließlich Jane kennen. Schließlich werden sie, Adam und Eva gleich, aus dem Paradies vertrieben.
Es gibt zumindest drei eindrucksvolle Belege für den Reiz, der den Mythos Tarzan all den eindimensionalen und eher misslungenen Verfilmungen zum Trotz weiter leben lässt und dem der Affenmenschen seine Unsterblichkeit verdankt. Es sind genau jene drei Romane von Edgar Rice Burroughs, die nun anlässlich des 100. Geburtstags von Tarzan vom Schweizer Kleinverlag Walde + Graf neu aufgelegt wurden. Der Versuch, Tarzan nicht allein der Filmgeschichte zu überlassen, ist gelungen. Burroughs Fabulierlust, seine irrwitzige Fantasie und auch die Übersetzung von Ruprecht Willnow und Marion Hertle schaffen bewegende Bilder im Kopf.
Drei Bände "Tarzan" sind bereits bei Walde + Graf erschienen.
Dieser Text ist ursprünglich im Universum Magazin (April-Ausgabe) erschienen.