Es gibt eine Sehnsucht nach neuen Parteien, nach weniger Filz, weniger Korruption – insgesamt: einer Politik, die wir nachvollziehen können. Nicht nur in Deutschland setzen viele Ihre Hoffnung in die Piratenpartei. Doch: Welche Probleme könnten die Piraten überhaupt lösen?
Neue Strategien unverzichtbar (Konrad Becker)
In Österreich wurde als erste Reaktion auf den Erfolg der Piraten nur von einer Juxpartei gesprochen. Doch die von Politik- und Marktversagen geprägten Probleme, die den Wunsch nach Alternativen begründen, sind durchaus real. Die verengte Perspektive und mangelnde soziale Kompetenz der Piraten ist oft schockierend, das Verständnis kultureller Praxis erschreckend gering. Aber traditionelle Parteien haben die Herausforderung digitaler Informationsgesellschaften entweder sträflich vernachlässigt oder per Law-and-Order-Wahn amtsbehandelt. Das politische Etablissement zeigt sich den neuen Herausforderungen nicht gewachsen. Private Lobbys erkaufen sich Einfluss und arbeiten gegen Interessen der Öffentlichkeit. Niemand braucht digitale Lynchmobs, aber neue Strategien demokratischer Öffentlichkeit sich unverzichtbar. Denn neue Formen der Wissensorganisation schaffen gefährliche Ungleichgewichte in Umgebungen, die nicht nur mediatisiert, sondern zunehmend automatisiert sind. Der Trend steuert zu den Untiefen des Informationsfeudalismus, steigender Marktkonzentration und zentralisierter Macht durch dezentrale Kontrolle. Kontrollgesellschaften stehen aber in Widerspruch zum offenen Austausch von Kultur und Bildung als kollektive Ressource. In einer solch kritischen Situation ist Problembewusstsein Teil der Lösung. Schon weil Protest hierzulande meist nach rechts abdriftet bleibt nur Mast- und Schotbruch zu wünschen - und eine Handbreit Wasser unter dem Kiel... Konrad Becker, 53, ist Mitbegründer von World-Information.org und forscht im Bereich Kultur und neue Technologien. Außerdem Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen, zuletzt - gemeinsam mit Martin Wassermair "Nach dem Ende der Politik" - im Löcker Verlag.
Nicht zu viel erwarten von "Piratenwapperln" (Ingrid Brodnig)
Heinz-Christian Strache minus vier Prozent. Das BZÖ versäumt den Einzug ins Parlament. Das wäre doch ein schönes Wahlergebnis! Wenn es die Piraten schaffen, sich als neue Anlaufstelle für die Protestwähler zu etablieren, dann könnten sie den Rechten die Stimmen abtrünnig machen. So sieht das Best-Case-Scenario aus. Viel mehr sollte man sich von den Piraten aber nicht erwarten, schon gar nicht inhaltlich. Die Partei gibt es schon seit 2006, an der politischen Debatte nimmt sie aber bisher nicht teil, ebensowenig findet man ein echtes Parteiprogramm online. Ein riesiger Fehler, denn die Netzpolitik wird immer wichtiger. Online werden derzeit zentrale Bürgerrechte ausverhandelt, das Verhältnis von Staat, Firmen und Bevölkerung neu ausgelotet. Auch die Leute interessieren sich immer mehr für ihre Rechte im Internet, das führen etwa die Proteste rund um ACTA vor, dem umstrittenen internationalen Anti-Piraterie-Abkommen. Doch wo bleiben die Piraten bei dieser Debatte? Man weiß es nicht. Ihr Programm, ihre Führungsfiguren sind unbekannt. Und trotzdem würden sechs Prozent der Bürger für die Piraten stimmen, sagt eine aktuelle Gallup-Umfrage im Auftrag der Zeitung "Österreich". Das zeigt, wie verzweifelt die Bevölkerung sein muss, wie sehr sie sich nach einer politischen Alternative sehnt. Und zwar nach irgendeiner. Das ist die wahre Leistung der Piraten. Sie jagen den etablierten Parteien - inklusive Grüne - Angst ein. Diese können es jetzt nicht mehr leugnen: Sie stecken echt in der Bredouille, wenn ihnen sogar die Piratenwappler Wähler wegschnappen. Ingrid Brodnig, 27, ist Redakteurin der Wiener Stadtzeitung/ Falter. Ihr Fokus: Netzkultur. Sie twittert unter @brodnig
Echtzeit-Demokratie (Rodrigo Jorquera)
Offenheit, Transparenz und Partizipation: das sind die Säulen auf denen die Piratenpartei basiert. Die Sehnsucht nach diesen Werten ist ein direktes Produkt der Politikerverdrossenheit, die die Abgehobenheit der bisher agierenden Parteien verursacht hat. Die unhinterfragte Akkumulation von Macht, die die eigentlichen Werte der christlich sozialen, sozialistischen und libertären Parteien als leere Hülsen hinterlassen hat und der eigentliche politische Diskurs, der zur Verbesserung der Lebensrealität jedes Einzelnen geführt werden sollte, ist zur populistischen Scheinkommunikation verkommen. Die direkte Reaktion auf diese Missstände ist das Aufkommen der Piratenpartei. Ebenso ist diese Neuentwicklung Bestätigung und Garant dafür, dass wir Piraten sehr viel erreichen können und werden. Wir sind eine politische Partei, die sich in erster Linie als Sprachrohr und politische Plattform der Bevölkerung Österreichs versteht. Somit muss die Frage, welche Probleme der Piraten lösen können dementsprechend umformuliert werden. Welche Probleme kann sie österreichische Bevölkerung lösen? Grundsätzlich sollen alle politischen Entscheidungen zum Wohl jedes einzelnen Bürgers beitragen. Die Problematik besteht darin, dass sich die etablierten Systeme mit aller Macht dagegen wehren, sich dem digitalen Zeitalter zu öffnen. Daraus resultieren die demokratischen Bruchstellen, welche wir heute erleben. Wenn die Piraten mithilfe der Bevölkerung eine "Echtzeit Demokratie" erschaffen können, werden wir gerüstet sein, jede Herausforderung mithilfe der Schwarmintelligenz zu meistern. Die etablierten Parteien müssen aus ihrer Angststarre befreit werden und freiwillig Platz machen für das Volk. "We are the 100%" - auch wenn das einige politische Vertreter gerne vergessen. Ohne Konsens und Niederreißen ideologischer Barrieren werden wir nicht den Weg in ruhigere Gewässer finden. Die Zeit ist reif für den Übergang. Rodrigo Jorquera, 32, ist Bundesvorstand der Piratenpartei und arbeitet als selbstständiger IT-Manager in Wien. "Ungerechtigkeit" habe er noch nie ertragen können. "Von den Bürgern wird verlangt, dass sie immer transparenter werden, während sich die Parteien immer mehr verschließen und Entscheidungen im Hinterzimmer treffen".
Die Situation ist keine neue: Die Politik steckt in der Krise. Die Medien schreiben vom Ruf der Leute nach neuen Parteien, nach weniger Filz, weniger Korruption, einer Politik, die sie nachvollziehen können. In Deutschland wird dieser Ruf gehört, die Piraten liegen in Umfragen teilweise vor Grünen, Linken und FDP sowieso. Dabei kennen sie noch nicht einmal ihr Programm. In Österreich stellt die Piratenpartei in Innsbruck immerhin bereits einen ersten Gemeinderat. Man muss kein Prophet sein, um zu sagen: Weitere werden folgen – nicht nur, aber vor allem im urbanen Raum.
Die etablierten Parteien verstehen die Welt nicht mehr. Da hat man sich all die Jahre redlich bemüht. Und dann taucht, wie aus dem Nichts, eine Partei auf – ohne erkennbares Programm, ohne charismatische Persönlichkeiten – und wird für ihr bloßes Dasein vom Wähler belohnt. Wenn überhaupt ein Thema erkennbar ist, dann bloß ein radikaler Freiheitsbegriff – geerdet, praktiziert und bedroht im Internet. Dabei beruht der Umgang (Kopfschütteln, Verwunderung) der etablierten Parteien womöglich auf einem großen Missverständnis. Man schreit »Monothematik!« und sieht nicht, dass es eigentlich um eine ganze Bandbreite an Themen geht. Auf eine denkwürdige historische Parallele deutet die Fehleinschätzung des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (SPD) aus dem Jahr 1982 hin: »Ich glaube nicht, dass die Grünen auf Dauer existenzfähig sein werden. Diese Bewegung ist völlig unpolitisch, sogar politisch naiv.«
Ungeachtet dessen stellt sich die Frage: Welche Probleme könnten die Piraten überhaupt lösen? Welche sollten sie lösen?