Wenn sich in Fuschl am See eine Konzernzentrale aus dem Boden stampfen lässt, dann wäre das – rein theoretisch – auch am Ottensteiner Stausee möglich. Praktisch kann man in weiten Teilen des Waldviertels nicht einmal telefonieren. Vom Fortschritt der Jungen aus einem gottverlassenen Landstrich.
„Wir sind da, wo oben ist”, so hat das Waldviertel seit ein paar Jahren seinen Werbeclaim neu abgesteckt. Wobei es als Fortschritt gewertet werden darf, dass sich die vielleicht schönste Gegend Niederösterreichs heute nicht mehr mit nasskalten Nebeltagen und menschenleerer Landschaftsmystik interessant zu machen versucht. Wer verbringt schon seine Urlaubstage gern im Trüben? Nicht zuletzt stärkt solcherart Selbsterhöhung auch das Selbstwertgefühl der Eingeborenen. Oft genug wiederholt fühlen sich die, die oben sind, schließlich meist irgendwie überlegen. Rein gefühlsmäßig geht es also aufwärts.
Waldviertel, da wo oben ist
Als Tourist hingegen wird man es auf dem Weg nach „oben“ womöglich schwer haben. Zumindest wenn man mit einem 3G-Navi unterwegs ist. Denn zwischen Krems und Weitra, zwischen Zwettl und Horn ist man fast zwangsläufig mit dem Auto unterwegs – und dabei grenzt es fast schon an ein Wunder Braunschlag’scher Dimension, wenn dabei der Handyempfang nicht abreißt. Stimmt schon, als Urlauber nimmt man das gerne mal in Kauf. Zumal es nicht unangenehm ist, am Wochenende auch mal seine Ruhe zu haben. Für jenen Teil der Bevölkerung aber, der sich gerade dem Broterwerb zu widmen hat, ist die technische Infrastruktur des Landes allerdings eine Zumutung. Da mögen redliche Waldviertler Aktivisten (wie Christoph Mayer hier) noch so sehr vom Ausbau der Schnellstraßen schwärmen: Ohne flächendeckende Netzabdeckung ist dieser Landstrich schlicht nicht im 21. Jahrhundert angekommen.
Indien, da wo vorne ist
Nur zum Vergleich: In Indien ist es – laut Economist vom 29. September 2012 – mittlerweile möglich, eine Zugstrecke von 4.200 Kilometer (in Worten: viertausendzweihundert) und 615 Stationen unterwegs zu sein, ohne dass ein einziges Mal die Verbindung abreißt. Diese Distanz auf Luftlinie umgelegt ließe sich ganz Österreich nahezu zweimal umrunden. Ob es da überhaupt noch Sinn macht, wenn Waldviertler Lokalpolitiker das Wort „Wettbewerbsfähigkeit“ in den Mund nehmen?
Selbst engagierte Initiativen wie www.wohnen-im-waldviertel.at, die versuchen, der Abwanderung entgegenzuwirken und neue Siedler zu locken, haben es da nicht leicht. Eine echte Perspektive bietet das Waldviertel derzeit nur Aussteigern und Künstlern, denen die Idee eines Ateliers im nicht mehr gebrauchten Kuhstall nicht zu weltabgewandt scheint. Angenehm realistisch jedenfalls, wenn www.zukunftsorte.at – die neue Plattform des Vereins innovativer Gemeinden Österreichs – auch den Wissenstransfer schrumpfender Gemeinden fördert: wie sich der Rückbau von Infrastruktur beim Fortschritt der Jungen und einem überalternden Rest bewältigen lässt, ohne dass alles zusammenbricht.
Aber vielleicht wäre es ohnehin am konsequentesten, die Rückzugsgefechte koordiniert zu führen. Ein möglicher Masterplan: weite Landstriche auf lange Sicht gleich ganz sich selbst zu überlassen, als Teil eines Nationalparks; restbevölkerte Gegenden als Biosphärenpark aufzuwerten; die verbleibende Landwirtschaft zu 100% auf biologischen Landbau umzustellen – die Bio-Quote ist jetzt bereits beachtlich und mit Sonnentor gibt es immerhin einen kulturellen Leitbetrieb – und die bäuerlichen Landschaftspfleger im Nebenerwerb dem Tourismus zuarbeiten zu lassen. Abenteuerliche Expeditionen dorthin, wo oben ist, entsprechen ja vielleicht sogar den Bedürfnissen kaufkräftige Inder.
Niederösterreich ist Schwerpunktthema in der Feberausgabe von The Gap, mit Clubkultur (Warehouse, Jazzkeller Krems, Sub, Redbox Mödling etc.), einem Wortwechsel zu schwarzer Kulturpolitik, zwei Texten zu St. Pölten, Filmpolitik und einem Interview zur Jugendkultur im Waldviertel.