Nach Protesten bleibt die ”East Side Gallery“, der längste erhaltene und durch seine Graffitis bekannte Teilabschnitt der Berliner Mauer, also doch erhalten. Vorerst. Was uns auch nicht erspart bleiben wird: darüber zu diskutieren, welche Monumente aus der NS-Zeit wir erhalten sollen.
Die Zeit vergeht. Die Zeitzeugen sterben und die Geschichte schreitet voran, wie es so schön heißt. In Deutschland diskutieren Historiker anlässlich des Jahrestags von Hitlers Machtergreifung, ob es – 80 Jahre danach – überhaupt noch korrekt sei, die Zeit des Nationalsozialismus der sogenannten „Zeitgeschichte“ zuzuzählen. Dieselbe Frage kann man sich 75 Jahre nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich stellen.
Das mögen akademische Detailprobleme sein. Doch hinter dieser großen Geschichte steckten bislang erlebte oder erzählbare persönliche Schicksale. Doch – ob Opfer, Täter, Mitläufer oder Widerstandskämpfer – kaum jemand, der diese Zeit bereits bewusst erlebt hat, kann heute auch noch bei vollem Bewusstsein davon berichten. Mit der persönlichen Betroffenheit wächst auch die Distanz zur größten Zäsur der europäischen Geschichte (die immerhin mit einem Weltkrieg endete und einen „Kalten Krieg“ zur Folge hatte). Waldheim und Wiesenthal, auch Oma und Opa sind lange tot. „Niemals vergessen!“, der Slogan der Nachkriegs-Antifaschisten, ist als historische Chiffre selbst fast schon in Vergessenheit geraten. Für viele Europäer mit außereuropäischem Migrationshintergrund fehlen zudem die persönlichen Bezüge, sie bringen ihre eigene Geschichte mit.
Deshalb war es so wichtig, die Restitution von in dieser Zeit gestohlenem Kunst- und Kulturgut als späte Wiedergutmachung noch vor der Jahrtausendwende zu regeln. Andernfalls hätte es, das war klar, irgendwann nur mehr geheißen:
Verjährt, Schwamm drüber!
Denn mit den persönlichen Bezügen sinkt – naturgemäß – auch die Bereitschaft der Nachgeborenen, Verantwortung zu nehmen und, ganz konkret, die Gedächtniskultur zu finanzieren. Niemand wird ernsthaft auf die Idee kommen, nichts mehr erhalten zu wollen. Die Geschichte Europas wird für immer untrennbar mit diesem Ereignis verknüpft bleiben. Doch schon jetzt verfallen manche Konzentrationslager und können nur unter dem größten Einsatz der letzten Überlebenden oder, schon weniger, dank des Engagements von deren Nachkommen erhalten werden. Irgendwann werden auch die Kindeskinder gestorben sein.
Was gedenken wir zu erhalten?
Jede Generation schreibt ihre Geschichte neu. Deshalb müssen (und dürfen!) wir uns auch fragen, wie und wem wir künftig gedenken wollen? Der 13,3 Millionen Toten oder der persönlichen Lebensgeschichten, die hinter ermordeten Juden, Roma, Schwulen, Zeugen Jehovas oder politisch Andersdenkenden stecken. Gehörten nicht auch diejenigen gewürdigt, die damals aktiv Widerstand geleistet haben, die aber – wie Alfred Goubran in seinem Essay „Der gelernte Österreicher“ ausführt – in Österreich besonders aktiv vergessen und verdrängt wurden, weil es der bequemen Selbststilisierung Österreichs als „erstes Opfer“ Nazi-Deutschlands nicht genehm war.
Auch daran, dass es in Niederösterreich einmal lebendige jüdische Gemeinden gab, erinnern heute nur mehr verwildernde, abgelegene Friedhöfe, auf denen einmal im Jahr symbolisch das Gras gemäht wird. Ist das nicht eigentlich viel zu wenig? Gehörte das nicht ordentlich aufgearbeitet?
Weil gleichzeitig das Geld, das eine solche Gedächtniskultur nötig hat oder hätte, nicht eben mehr wird, werden wir schon bald nicht darum umhinkommen zu diskutieren, was wir für uns und die uns nachfolgende Generationen zu pflegen und zu erhalten bereit sind. Das gilt freilich auch für sakrale Bauten. Natürlich trägt die Gesellschaft, tragen wir alle auch eine kunsthistorische Verantwortung. Doch wie viele Kirchen sollen wirklich erhalten, wenn sie für immer weitere Teile der Bevölkerung kaum noch von realer Bedeutung sind. Alle eher nicht. Sonst herrschen bei uns irgendwann wirklich die oft heraufbeschworenen „italienischen Verhältnisse“: Wir erhalten Bauten, wir schützen das Erbe, doch für kulturelles Leben in der Gegenwart bleibt kaum noch Geld übrig.
100 Jahre Erster Weltkrieg
Ein möglicher Anlass für eine breite Diskussion bietet sich allerspätestens 2018. Dann werden wir, von 2014 an, fünf Jahre lang ausführlich „100 Jahre Erster Weltkrieg“ gedacht haben. Hundert Jahre nach dessen Ende – das ist länger als jedes Menschenleben – wird der dann zwar besser aufgearbeitet sein. Was uns aber womöglich erschrecken wird: dass er damit für jeden von uns plötzlich unfassbar weit weg ist.