Selten wurde ein Soundtrack so punktgenau kuratiert wie der von "The Hunger Games – Mockingjay Part 1". Ein Blick zurück auf 20 essenzielle Soundtracks der letzten 20 Jahre bestätigt das.
Judgement Night (1993)
Ein Meilenstein für Crossover. Irgendwie standen zwar Run DMC und Aerosmith mit „Walk This Way“ ein paar Jahre zuvor schon Pate für den Mix aus harten Gitarren, harten Beats und Rap, der Grimm und die Konsequenz dieser Tracks war aber einzigartig. Hier war ein Film erst der Auslöser für eine Serie erstaunlicher Kollaborationen zwischen Rap und Alternative. Auch wenn das Genre Crossover später fast nur mehr Blödsinn produzierte, „Judgement Night“ zeigte, dass Musik tatsächlich Grenzen überwinden kann. Online Reinhören: Onyx und Biohazard, Faith No More und Boo Ya Tribe, Slayer und Ice-T ...
Pulp Fiction (1994)
Quentin Tarantino hat vor zwanzig Jahren nicht nur das Filmemachen völlig verändert, sondern auch wie man einen Soundtrack kuratieren kann. Oft startet die Arbeit an dem Drehbuch bei ihm mit der Plattensammlung, mit einem Groove oder einer Stimmung. Obskure Songs werden zu Trägern der Handlung, sie überzeichnen die Atmosphäre einer Szene oder tauchen sie in ein anderes Licht. Dabei illustriert Tarantino nichts, Songs sind nicht dazu da die filmische Illusion zu vertiefen, sondern sie erzählen auf eine postmoderne Art eine zweite Geschichte. Auch „Girl You’ll Be A Woman Soon“ hat seit Mias Überdosis (Uma Thurman) nie wieder gleich geklungen. Chuck Berry, Al Green, Urge Overkill ...
König der Löwen (1994)
„In the jungle, the mighty jungle, the lion sleeps tonight“, dachte sich wohl auch Disney, als sie den traditionellen südafrikanischen Song für ihren Film verwendeten und davon quasi nichts an den Urheber Solomon Linda abgaben. Zehn Jahre später wurde der Fall nach langem Rechtsstreit endlich gelöst. Man mag sich nun fragen, warum diese Tiere und Prinzessinnen in Disney-Filmen dauernd singen anfangen, aber ja, meistens deshalb, weil Musik die Story emotional unterfüttert und sich mit eigenen Kompositionen auch noch ordentlich Geld abschöpfen lässt. Hier zehnfach Platin, ein Rekord. Natürlich kann man auch das besser und schlechter machen, hier besser. Ahja, Hans Zimmer hat den Soundtrack geschrieben, deshalb. Hans Zimmer, Elton John, Solomon Linda
Strange Days (1995)
So ist FM4, meinte Martin Blumenau vor fast zwanzig Jahren. Das mag im Nachhinein ein bisschen optimistisch wirken, die Pre-Millenium-Tension irgendwo zwischen Grunge, Cyberpunk und Trip Hop wurde aber selten so griffig auf einen Soundtrack gebannt. Ein Soundtrack als Mikrokosmos und als Lebensgefühl, daran haben sich schon viele vergeblich versucht. Ahja, Scientologin Juliette Lewis war da auch noch für kurze Zeit cool und hat sogar brauchbar gesungen. Tricky, Skunk Anansie, Juliette Lewis uvm.
Trainspotting (1996)
„Shouting lager, lager, lager“! Was eigentlich eine B-Seite war und ein Jahr lang dort vor sich hin schlummerte, wurde plötzlich zur Hymne kaputter Lads, die sich wochenends regelmäßig die Birne mit Bier und Pillen matschig schlagen. Aber auch sonst taugt die Musik als essenzieller Soundtrack von Cool Britannia, dem Schlagwort für die einzigartige kulturelle Soft Power des Königreichs in den 90ern und den unwiderstehlichen, politischen Aufstieg Tony Blairs. Auch schön, dass harter Techno und ein Junkiefilm zum Nachlass eines der beliebtesten Premiers des Königreichs werden kann. Underworld, Blur, Primal Scream, Pulp ...
Lost Highway (1997)
David Lynch hat schon früher Musik zum Verstärker der Handlung gemacht. Harmlose Lieder von Roy Orbison oder Bobby Vinton wurden mit gewalttätigen Bildern in dunkle, sexuelle Energie getaucht. Viele Szenen lebten vom extremen Kontrast zwischen Bild und Ton. Der Regisseur ging bei „Lost Highgway“ den umgekehrten Weg, schnelle, harte Musik überzeichnet die mysteriösen, blutigen Bilder noch zusätzlich. Mit diesem Film hat er noch dazu Rammstein dabei geholfen zur erfolgreichsten deutschen Band in den USA zu werden. Rammstein, Nine Inch Nails, David Bowie ...
Lola rennt (1998)
Irgendwann musste auch die Techno-City Berlin Kulisse und Sound eines Spielfilms werden. Im Hintergrund brutzeln andauernd die Acid- und Trance-Synths, dauernd pumpt das Adrenalin, die roten Haare wie direkt von der Parade, immer wieder dasselbe Spiel, ein bisschen anders, immer wieder ein anderer Trip, dauernd die Suche nach dem Kick. In "Lola rennt" wird der ganze Groove eines Genres zum Soundtrack. Tomy Tykwer, Johnny Klimek, Reinhold Heil, Franka Potente Ganzer Film hier
Buena Vista Social Club (1999)
Buena Vista Social Club gilt mit über 8 Mio. Stück als erfolgreichstes Album im Bereich der Weltmusik. Dabei kam der Film erst später hinzu, nach einem Grammy nahm Ry Cooder seinen Freund Wim Wenders nach Kuba mit, die dort gedrehte Dokumentation verstärkte den Erfolg noch einmal und unterfütterte den Mythos vom süßen Leben im kaputten Zuckerrohr-Sozialismus mit der Kamera. Buena Vista Social Club
Dancer In The Dark (2000)
Selma wird langsam blind, ihre Junge auch, die Menschen sind kalt und grausam, alle Menschen werden sterben, und Selma gleich durch den Galgen. Dabei zeigen die Songs hier ganz klassisch die Innenwelt von Selma, die Geräusche ihrer Umgebung werden in die Songs selbst eingewoben, Selma selbst zieht sich langsam aus der Welt zurück. Björk sagt später über ihre Rolle als Selma, Regisseur Lars von Trier “… needs a female to provide his work soul. And he envies them and hates them for it. So he has to destroy them during the filming. And hide the evidence.“ Jede Note des Soundtracks wäre ein Kampf gewesen. Es hat sich zumindest für das Publikum gelohnt. Björk
O Brother Where Art Thou? (2000)
Und plötzlich war Bluegrass und Hillbilly wieder cool. Soundtracks können das, vergangene Stile und ihre unverständlichen Texte plötzlich wieder lebendig machen, ganz besonders wenn sie so behutsam in eine klassische Odyssee-Handlung durch die US-Südstaaten eingewoben sind wie hier. Der Teufel, der Ku Klux Klan, Schuld und Sühne, sie alle mischen in diesem kleinen Epos mit, das auch einen eigenen Mini-Hit produziert hat, „I Am A Man Of Constant Sorrow“, im Film selbst, aber auch in seiner Gegenwart. Bluegrass erlebte eine Renaissance. Alison Krauss, The Soggy Bottom Boys, Norman Blake uvm.
Komm süßer Tod (2000)
Die Tradition gut gemachter Soundtracks ist im Musikland Österreich nicht die allerbeste. Meistens wird halt Musik dazu geschnitten. Oder man beauftragt ein paar Filmkomponisten. Beim Brenner, da ist das ein bisschen anders. Die Sofa Surfers wurden erstmals für „Komm süßer Tod“ beauftragt, später immer wieder. Davor und seither haben sie immer wieder für auf verschiedenste Arten Sound und Bilder verschränkt, sei es für „Train Of Thoughts“, „Megacities“ oder „Wirehead“.
Lost In Translation (2003)
Regisseurin Sofia Coppola hatte vorher schon mit Air für den Soundtrack von "Virgin Suicides" zusammen gearbeitet. Hier wurden stattdessen ein paar wenige Songs zur dramaturgischen Überhöhung von ein paar Schlüsselszenen eingesetzt (Wes Anderson beherrscht das ziemlich perfekt). Hier ist das eine Szene in der Karaoke-Bar, zwei Paar Augen, Scarlett Johansson mit Perücke, Bill Murray und Roxy Music. So nebenbei tauchte der große Kevin Shields aus seiner Versenkung auf, um nach vielen Jahren wieder einmal Töne zu machen. Einen guten Indie-Film machen, hieß später eben oft die richtige Musik auszuwählen. Beim Nachfolger "Marie Antoinette" blieb dann entsprechend ausser einem tollen Score nicht viel übrig. Phoenix, The Jesus & Mary Chain, Air
Garden State (2004)
Es war sicher nicht der erste Film dieser Machart, aber trotzdem irgendwie doch die Vollendung aller mitleidigen Indie-Sundance-Festival-Soundtracks. Zach Braff hat ihn höchstselbst ausgewählt. Ja, Mittelschichts-Kids haben genug Geld für Soundtracks, sie haben auch echte Probleme und außerdem viel Zeit sich Musik darüber anzuhören. Und manchmal verteilen sie als Erwachsene sogar noch Grammys für den besten Soundtrack. The Shins, Coldplay, Nick Drake
Juno (2007)
Anti-Folk war eigentlich schon lang vorüber, da schrieb Kimya Dawson von den Moldy Peaches immer noch manisch neue, verschrobene Songs, von denen sie nach einer Anfrage über hundert an den Regisseur von „Juno“ schickte. Viel davon wurde übernommen, sie machten sehr viel vom Charme des Films aus, vor allem eine der einprägsamsten Abschlussszenen der Filmgeschichte, neben „Fight Club“ natürlich. Am Ende stand der Soundtrack sogar auf der Eins der US-Charts. Kimya Dawson, The Kinks, Cat Power
Berlin Calling (2008)
Paulchen. Er war davor ja kein Schlechter, aber wie Paul Kalkbrenner da plötzlich zum Superstar von Techno Berlin hochstilisiert wurde, ließ bei manchen eben die Alarmglocken läuten. Dabei war seine Schauspielerei sogar recht ansehnlich, der Psychiatrie-Kittel stand ihm auch und sein melodieverstrahlter Techno eignete sich nicht nur für große Festivalbühnen, sondern auch noch als Projektionsfläche. Manchmal muss man eben mit dem richtigen Können am richtigen Ort zur richtigen Zeit sein. Und Paulchen war. Paul Kalkbrenner
Camp Rock (2008)
Lol. Am Interessantesten an „Camp Rock“ war, dass sich Gülle eben doch in Gold verwandeln lässt. Irgendwie beeindruckend, wie weit man die Gefühle von Kids und Teenagern als hormongeplagte Geldlegebatterien ausbeuten kann. Selbst Disney tut das selten so erbarmungslos und erfolgreich wie hier. Platin, Generation Singstar, Weltkarrieren, Music’s Got Control, This Is Me, Our Time Is Here, all das. Ye-aaachh! Jonas Brothers, Demi Lovato
Ivory Tower (2010)
Einige wenige Musiker machen nicht nur Musik, sondern sie schreiben und drehen zudem Filme, spielen darin die Hauptrolle und sorgen auch noch für die Musik. Chilly Gonzales gelang mit „Ivory Tower“ ein echtes Schmuckstück, nicht nur auf der Ebene des Soundtracks. Zum Glück konnte er den Titeltrack dieses Films über einen Bruderzwist über Kreativität und Effizienz am Spielfeld eines Schachbretts für eine Apple-Werbung verkaufen, um sich den Elfenbeinturm auch zu finanzieren. Chilly Gonzales und Boys Noize
Drive (2011)
„Drive“ ist ein sehr blutiges Märchen, das ungefähr zu gleichen Teilen aus einer silbergoldenen Bomberjacke, Schatten, dem Gesicht von Ryan Gosling und der kühlen Atmosphäre von Fake-80s-Songs besteht. Die Geschichte ist sehr simpel, viel wichtiger sind Details und der traumhafte Sound. Dabei sind vereinzelte Songs und der Gänsehaut-Score so geschickt miteinander verwoben, dass sich der Score wie ein künstlicher Filter über die ganze Geschichte legt und all seine Zartheit und Brutalität noch verstärkt. Der BBC-Moderator Zane Lowe wurde sogar heftig dafür kritisiert, dass er nur drei Jahre nach dem Film fand, man könnte den Soundtrack mit Banks, Chvrches oder den Foals verbessern. Die Idee war wohl gut gemeint. Aber man verbessert ja auch keinen Mozart. Kavinsky, The Chromatics, Desire
Frozen (2013)
Ein klassisches Kino-Musical muss auch sein. Nicht nur, weil „Frozen“ der erfolgreichste Animationsfilm aller Zeiten ist, sondern weil „Frozen“ auch noch eine ganz erstaunliche Geschichte abseits der üblichen Geschlechter-Rollenbilder erzählt, wie man sonst von Disney nicht gewohnt ist, wie Teresa Havlicek auch hier nachzeichnet. Demi Lovato, Idina Menzel, Kristen Bell
Hunger Games (2014)
Der Soundtrack von „Mockingjay“ ist ganz erstaunlich. Er ist zum Beispiel eher eine Idee. Denn im Film selbst ist davon nichts zu hören. Aber was für eine Idee. Selten wurde so geschickt Underground und Mainstream verbunden, die guten Teile davon. Das ist zwar auch erstklassiges Zielgruppen-Management, aber ohne die richtigen Songs wäre das trotzdem egal. Ja, alle sind sie drauf, Lorde, Kanye West, Chvrches, Haim, Chemical Brothers, Tinashe, Raury, Grace Jones usw. Ein paar klassisch Namen, viel Gegenwart, durchgehend Coolness. Als hätte einfach niemand abgesagt. Das wohl wichtigste Epos der Zehner Jahre aus dem Herzen der Post-Demokratie bekommt so den richtigen Rahmen. Eigentlich gar nicht mehr. Aber der ist fast aufregender als der überdehnte erste Teil des Finales selbst.
Dabei hört man diese 14 Songs im Film gar nicht. Soundtrack und Score sind eben nicht dasselbe. Dass beide nichts miteinander zu tun hätten, stimmt aber auch nicht. Die Themen der Songs sind lose an den Film angelehnt, Rebellion, Spiele, staatliche Kontrolle.
Hier wird an einer der großen Erzählungen der Gegenwart gearbeitet. Star Wars war dagegen oberflächliches Gut-Böse-Geplänkel. Die Figuren in Hunger Games sind vielschichtiger, mit unterschiedlichen Motivationen, der Bösewicht, ein fast milde aussehender Präsident, leidet zur Abwechslung mal nicht an körperlichen Deformationen. Geschickt inszeniertes Entertainment bringt Ablenkung. Für eine Elite bringt das System große Vorteile. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt die Hälfte des gesamten Wohlstands, schreibt der Guardian vor 6 Wochen. Nun, zumindest in Mockingjay wird die Heldin (eine Heldin!) widerwillig zur Gallionsfigur des Aufstands.
Im Film bekommt dieser sogar eine Hymne, einen Gospel für die Unterdrückten, The Hanging Tree. In deutschsprachigen Ländern wurde er nicht speziell ausgekoppelt. Aber in Belgien erreichte er die Spitze der Charts. Man kann Film und Musik jedenfalls auf sehr unterschiedliche Weisen verbinden. Als klassisches Musical, zur Überhöhung von bestimmten Szenen, als Grundlage eines Drehbuch, als Beat und Groove einer Handlung, als nachträgliche Dokumentation usw. Und was wurde nicht alles schon geschrieben, über Lalo Schifrin, Angelo Badalmenti, Isaac Hayes, Ennio Morricone, Hans Zimmer, Curtis Mayfield oder Serge Gainsbourg. Damit diese Liste aber nicht endlos wird, sollte sich der Blick auf die jüngere Vergangenheit richten, auf eine Zeit, in der vielleicht noch nicht klar ist, über welche Filmmusik man noch in 50 Jahren reden wird, was relevant oder bemerkenswert war.