Wann darf man Erwachsenen ins Gesicht spucken und wieso bedeutet Solidarität mit Flüchtlingen auch Liebe? Das erklärt Dirk von Tocotronic im Interview.
Tocotronic haben ein Werk über die ganz großen Gefühle gemacht, und zwar ein Konzeptalbum der Liebe. Dazu nehmen sie gerne auch mal die Sichtweise von Jugendlichen ein, was laut Sänger Dirk zu einer angenehmen Verwirrung im Hirn führt. Das neue Album hat zwar keinen Namen, wird aber jetzt schon im Volksmund wegen des Covers das "Rote Album" genannt. Mit den Beatles hat das aber nichts zu tun. Die Hamburger haben ein klassisches Popalbum geschrieben – irgendwie eh klar, wenn es um die Liebe geht.
Das Interview fand am 14. April statt, also vor den jüngsten Asly-Dramen im Mittelmeer. Dirk findet dafür schon vorher eindeutige Worte.
Beim letzten Interview mit uns hast du angekündigt, dass auf dem neuen Albumcover wieder Kunst zu sehen sein wird, wolltest aber noch nicht viel verraten. Jetzt darf man fragen: Wer hat es gemacht?
Das ist ein Bild von einem langjährigen Begleiter von uns, der heißt Jan Timme. Das ist ein Konzeptkünstler aus Berlin, der hat uns auch schon oft auf Tour begleitet. Er hat dieses rote Bild für uns gemalt.
Auch beim letzten selbstbetiteltem Album hat es mit dem weißen Cover Beatles-Anspielungen gegeben. Jetzt das "Rote Album". Habt ihr euch da etwas abgeschaut?
Nein das ist eher Zufall. Obwohl man als Musiker immer an die Beatles denken sollte, aber man muss es nicht immer (lacht).
Das Cover trägt die Farbe der Liebe. In der ersten Veröffentlichung Prolog singt ihr "Liebe wird das Ereignis" sein. Auch in anderen Songs dreht sich der Text um die Liebe. Ist das so der rote Faden im Album?
Schöner kann man es eigentlich nicht ausdrücken. Ja, Liebe ist der rote Faden des Albums. Wir hatten von Anfang an vor eine Liedersammlung über dieses Thema zu machen.
b>" ist der dritte Vorbote für das Album. Ab wann ist man denn erwachsen? Und ab wann darf man den Erwachsenen ins Gesicht spucken?
Das sollte man immer tun. Ich glaube Erwachsen sein ist ein bisschen altersunabhängig. Auch Alter ist so eine Art soziale Konstruktion ähnlich wie Geschlecht. Das hat mit Resignation, Komfortismus, Vernünftigkeit zu tun. Wenn immer man solche Leute trifft, sollte man denen ins Gesicht spucken, das ist ganz klar. Ich fand das Stück immer lustig, weil wir die Position von Jugendlichen einnehmen, die sich selber als Babys bezeichnen. Das führt zu einer angenehmen Verwirrung im Gehirn.
Seid ihr schon vernünftige Erwachsene?
Nein, wir sind ja Künstler und dazu verdammt, ewig infantil zu bleiben. (lacht)
Euch gibt es jetzt schon seit 22 Jahren und ihr habt schon einige Alben aufgenommen. Wie viel Routine ist dabei?
Das ist das Positive daran, dass man als Künstler immer ein bisschen infantil bleiben muss. Man kann selber Routinen ausweichen. Ich bin eigentlich sehr glücklich, wie uns das über die letzten 22 Jahre gelungen ist. Das klingt ein bisschen nach Selbstlob, aber ich glaube schon, dass da was dran ist. Wir haben das gemeinsam mit den Leuten, mit denen wir zusammen arbeiten, immer geschafft uns auch selber zu überraschen und uns Steine in den Weg zu legen, damit man eben nicht in Routinen fällt. Zum Beispiel ein Album über das Thema Liebe zu machen, das ist ein sehr schwieriges Thema, man kann schnell daran scheitern.
Es hat sich sowohl textlich etwas verändert, als auch musikalisch. Das letzte Album "Wie Wir Leben Wollen" war poppiger, und jetzt beim neuen Album hat sich das noch mehr verstärkt. Hat das mit dem Thema zu tun?
Ja schon, wenn man ein Album über die Liebe macht, hat man den Wunsch ein klassisches Pop Album zu machen. (lacht) Aber wir waren immer Fans von lauten dröhnendem Rock, Grunge oder Punkrock aber wir waren gleichzeitig auch immer Popfans. Zwischen diesen zwei Polen bewegen wir uns eigentlich immer und dann schwingt eben das Pendel mehr zum Rock aus wie bei "Kapitulation" und "Schall und Wahn". Die sind mehr rockig, improvisatorisch und vom Live-Spielen beeinflusst. Und es gibt Alben wie "Wie Wir Leben Wollen", die mehr die psychedelische Seite der Musik, die wir machen, beleuchtet.
Aber dieses Mal ist doch irgendwie noch etwas anders. Es erinnert mich teilweise, zum Beispiel bei "Spiralen" oder "Diese Nacht", ein bisschen an gemütliche Lagerfeuermusik. Das ist untypisch…
Ja das hast du gut beobachtet, vor allem in der zweiten Hälfte gibt es ein paar Lieder, die sehr folkig sind und sehr reduziert. Das liegt sicher auch daran, dass ich ein ganz großer Folkmusik-Fan bin. Wir haben bei dem Album versucht zu reduzieren, um an den Kern der Sache zu kommen und auf dem Weg dahin haben wir das Folkige sehr stark zugelassen.
Anderes Thema: Ihr beschäftigt euch schon seit längerer Zeit mit Asylpolitik und diskutiert das auch öffentlich. Inwiefern fließt das in eure Arbeit mit ein? Ich habe es in dem Lied "Solidarität" wieder gefunden, wenn ich mich nicht irre?
Ja, das ist direkt unter dem Einfluss entstanden. Im Sommer letzten Jahres in Berlin gab es grassierende Proteste von rechtem Bürgertum aber auch Nazis gegen Asylbewerberheime. Diese Proteste haben mich so grauenvoll erinnert an Anfang der 90er Jahre, als sozusagen in Folge der Proteste das Asylrecht in Deutschland nahezu abgeschafft wurde durch die Drittstaatenregelung. In der Zwischenzeit ist ja noch viel Schrecklicheres passiert, man denke nur an Pegida. Das zeigt wie tief Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der deutschen Gesellschaft verwurzelt ist.
Die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik ist eine Schande, die man hoffentlich in 50 Jahren auch als solche wahrnimmt. Das Stück Solidarität ist ein direkter Versuch diesen Eindruck in einem Lied zu verarbeiten. Natürlich hat es sich in das Konzept des Liebesalbums eingepasst. Die Idee war, dass Solidarität so etwas wie die politische Ausformung von Liebe sein könnte.
Ihr postet auf Facebook immer wieder Links zu Veranstaltungen oder Organisationen, die sich gegen eine Verschärfung des Asylrechts engagieren. Inwiefern engagiert ihr euch da selbst?
Im letzten Jahr gab es in Berlin öfters Refugee-Proteste. Zu Beispiel war am Oranienplatz in Kreuzberg der Start für den Refugee March nach Brüssel zusammen mit dem Occupy-Bündnis. Da habe ich gespielt sozusagen als Protestsänger mit Akustikgitarre (lacht). Ich habe auch ein Charitykonzert gemacht für die Antifa Hellersdorf. Wir machen öfters solche Sachen.
Wir haben ein Lied über Facebook veröffentlicht, das hieß "Fuck You Frontex". Das war ein Protestsong gegen die europäische Grenzorganisation. Das haben wir urheberrechtsfrei auf Facebook rausgehauen, also ist nutzbar für jede Demo. Wir haben auch eine Kooperation mit Pro Asyl. Das ist ein Thema, das uns sehr stark betrifft und mit dem sich linkes Engagement einfach befassen muss.
Das heißt, es könnte bei einer Demo passieren, dass Tocotronic unter den Leuten steht und anfängt zu spielen?
Das kann passieren (lacht). Wir sind aber in erster Linie Künstler und haben da auch gerade jetzt viel um die Ohren. Ich engagiere mich sehr gerne ohne wenn und aber, aber man hat auch noch andere Sachen zu tun.
Das Rote Album erscheint am 1. Mai bei Vertigo Berlin. Demnächst ist die Band für ein FM4-Überraschungskonzerten in Wien. Könnte sinnvoll sein sich hier anzumelden. Am 19. Juli kommen Tocotronic für ein Konzert in die Wiener Arena.