Das schlimmste Monster ist immer noch der Mensch – und seine größte Hoffnung zugleich. Eine Anime-Serie setzt diesen unheimlichen Umstand beinahe perfekt um.
Seine Mutter wird gefressen, vor seinen Augen, in zwei blutige Teile gebissen, ein Titan verschluckt sie mit breitem, friedlichem Lächeln. Terror. Hass. Wut. Eren Yeager reagiert so und kennt von da an nur mehr ein Ziel, alle Titanen zu töten. Nur ist das selbst für die Hauptfigur von »Attack On Titan« eine zu große, unbewältigbare Aufgabe. Seine Freunde und Kameraden sterben wie die Fliegen, Pläne scheitern, die wenigen Erfolge sind durch hohe Verluste erkauft. Dazu kommt Verrat in den eigenen Reihen und die Unwissenheit, warum das alles überhaupt passiert. Woher die Titanen kommen. Warum sie die Menschheit so dezimiert haben, dass diese innerhalb von drei hohen Mauern wie Vieh leben muss. Und wenn diese Titanen nicht einmal Nahrung brauchen, wieso sie dann Menschen jagen und fressen.
Willkommen bei »Attack On Titan«. Der enorme Erfolg der gleichnamigen Anime-Serie kam für die Macher dermaßen überraschend, dass zwei Jahre nach der TV-Erstausstrahlung noch immer an der zweiten Staffel der Serie gearbeitet wird. In der Zwischenzeit wurde das zugrunde liegende Manga allein in Japan 50 Millionen Mal verkauft. Ein mittelmäßiger Kinofilm kam heuer in die japanischen Kinos und war sofort auf der Eins. Der zweite Teil folgt noch im Herbst. Und natürlich gibt es endlos Fanfiction, Gadgets und Adaptionen. Es ist fast wie bei »Batman« oder »Harry Potter«. Eine Idee hallt nach, stößt auf so viel Resonanz, dass sie immer weiter gesponnen wird. Das Manga selbst wurde bereits 2009 veröffentlicht, eigentlich als Shōnen, d.h. es war vorwiegend für männliche Teenager gedacht. Damals stand Japan am Höhepunkt seiner Wirtschaftskrise, die Arbeitslosenrate betrug 5,7 Prozent. Für andere Länder sind das traumhafte Zahlen, für Japan eine Katastrophe. Aber erst mit dem Video-Anime kamen viele internationale Seher dazu – allein auf der Imdb wird es von 44.000 Menschen mit 8.9 Punkten bewertet. Sie sehen eine grandios gemachte Serie, die gleichzeitig unterhält und erschüttert.
Grinsende, unheimliche Killer
»Seid ihr das Essen? Nein, wir sind die Jäger«, singt der Chor im Titelsong zu epischem Metal, ja, auf Deutsch. Die Atmosphäre ist manchmal heiter, viel öfter aber finster und beklemmend. Nach über hundert Jahren haben die Titanen wieder angegriffen und eine Mauer durchbrochen. Sie schauen freundlich und unschuldig aus, wenn sie Menschen zermalmen und verschlingen, spüren keinen Schmerz, selbst wenn ihnen ganze Gliedmaßen abgeschnitten werden. Nur ein sauberer Schnitt im Nacken kann sie wirklich töten. Die Menschheit steht nicht mehr ganz oben in der Nahrungskette. Ein Game, das Skizze geblieben ist, zeigt den aussichtslosen Kampf aus der Ego-Perspektive. Ohne viel Übung wird man immer wieder von den Titanen zermalmt, schwer verletzt, gepackt und gefressen. Und selbst später sind die Überlebenschancen gering. Jeder Einzelne muss so gegen Umstände kämpfen, die viel größer sind als er selbst und ganz buchstäblich drohen, ihn zu verschlucken.
Interpretationen gibt es dazu viele. Etwa dass die Angst vor dem wieder erstarkten Riesen China und die beginnende Remilitarisierung Japans hinter dem Erfolg der Serie stecken. In China ist sie verboten, in Hong Kong dafür sehr erfolgreich. Oder – breiter gedacht –, dass die Serie die Ohnmacht gegenüber multinationalen Konzernen verarbeitet, wie übergroße Unternehmen die kleinen Leute beherrschen und verzehren. Über Regierungen, Superreiche oder Massenmedien lässt sich das ebenfalls leicht behaupten.
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