Die Polizeiprotokolle der Verhandlungen mit dem Attentäter von Toulouse im Jahr 2012 werden im Werk X als psychologisches Kammerspiel aufgeführt.
Der Raum ist abgedunkelt. Ein Muslim betet, die Geräuschkulisse wirkt eher bedrohlich. Im Hintergrund taucht ein zweiter Mann auf, vermummt, ein Gewehr in der Hand. Er befindet sich in Abschussposition zum Publikum. Er dreht sich langsam, zielt, schießt, dreht sich weiter, zielt, schießt wieder, dreht sich weiter. Unwillkürlich verkrampft sich die Hand im Moment in dem man selbst in den Lauf blickt. Ein komisches Gefühl.
Wir schreiben den 21. März 2012 in Toulouse. Die Wohnung des 24-Jährigen Mohammed Merah wird von der französischen RAID, der Spezialeinheit der Polizei zur Bekämpfung des Terrorismus, umstellt. Merah hatte in den Wochen zuvor sieben Menschen bei verschiedenen Attentaten im Namen des Dschihad getötet. Drei davon Soldaten. Vier in einer jüdischen Schule in seiner Nachbarschaft, drei Kinder und ein Lehrer. Hassan, Muslim und Mitglied der RAID, kommuniziert stundenlang mit Mohammed durch ein Walkie-Talkie.
Liest sich eher wie ein Zeitungsartikel? Ist es ja auch.
Das Skript der „Protokolle von Toulouse“ ist eine Dokumentation der Ereignisse der Attentate von Mohammed Merah im März 2012. Ein Gespräch zwischen zwei Glaubensbrüdern, die nicht oppositioneller sein könnten. „Vom Leben geschrieben“ heißt es in der Pressemitteilung. Fünfzehn Stunden dauerten die Verhandlungen zwischen Hassan und Mohammed damals an. Die Polizeiprotokolle wurden von der Journalistin Karen Krüger ins Deutsche übersetzt und später auf die Bühne gebracht. Die Inszenierung gibt dem Stück eine fiktionale Ebene. Ist das noch Theater?
Die Wirklichkeit ist ein löchriger Schuh
Ja. "Es gibt einen Ort!" Wenn wir nämlich Wolfram Lotz in seiner großartigen Rede über das unmögliche Theater Glauben schenken, dann ist das Theater der Ort, an dem Fiktion und Realität aufeinander prallen und in dieser Kollision beide ihre Fassung verlieren. Denn die Wirklichkeit ist unvollkommen, "ein löchriger Schuh, den wir uns so nicht anziehen werden!" Fiktion soll sie reflektieren, transformieren. Doch zurück zum Geschehen.
Die Bühne gleicht einem Sperrmülllager, in dem eine Mauer aus verschiedensten Platten, Leisten, Balken und Obstkisten gebaut wurde. Die beiden befinden sich auf unterschiedlichen Seiten, der eine versucht die Mauer abzubauen, der andere flickt sie wieder zusammen. Durchgehend. Das spiegelt sich auch in ihrem Gespräch wieder. Ein schönes Bild. Hassan (Felix Krauss) analysiert Mohammeds Hintergrund, fragt nach seinen Motiven, versucht Erklärungen zu finden für die Morde, sorgt sich beinahe. Mohammed (Martin Hemmer), Mudschahedin aus Überzeugung, geht ein Stück weit darauf ein und erzählt seine Geschichte. Er redet davon, wie sich der erste Mord für ihn angefühlt hat und wie der zweite – viel besser. Er erzählt davon, wie in Palästina tagein, tagaus muslimische Kinder, Frauen, Männer getötet werden und niemand interessiert sich dafür. Die wollte er rächen durch den Angriff auf eine jüdische Schule. Über Hassan erfahren wir wenig, er hält sich mit seinem Urteil Mohammed gegenüber zurück, nur ab und zu scheint seine persönliche Verzweiflung über dessen Ideologie durch.
"Mag sein, dass das Ganze für dich nichts weiter als ein Angriff auf Ungläubige ist. Aber für uns, für mich, für mich ist es eine echte Tragödie."
Wenn er solche Worte sagt, spricht er natürlich auch an, was viele Muslime seit den Ereignissen am Wochenende noch mehr betrifft. Der Punkt, an dem der Fortschritt ihres Gesprächs regelmäßig kippt, ist die Debatte um die Ausübung des Glaubens.
"Wir reden hier von Muslim zu Muslim." – "Du willst dich einen Muslim nennen?"
Als Zuschauer findet man auf merkwürdige Weise auch Verständnis für Mohammed, der scheinbar in einer Sackgasse bizarre Argumente für die Notwendigkeit seiner Taten heranzieht. Er hat durchaus Zweifel, rechtfertigt sich mehrfach, fragt nach Legitimität – Hassan gesteht sie ihm nicht zu. Eigentlich haben sie Verständnis füreinander, fühlen sich auf seltsame Weise nah, was jedoch unweigerlich zwischen ihnen steht ist die Interpretation ihres Glaubens. Und ein Haufen Sperrmüll.
Aufbauen, abbauen
Störend ist in manchen Momenten der Plauderton ihrer Unterhaltung, die abrupt in totale Anspannung wechselt. Im Laufe des Stücks wird dieses leider etwas mühsam anzusehen, da neue Elemente ausbleiben und die beiden Schauspieler es nur schwer schaffen, den Dialog zu tragen. Das ist allerdings weniger ihnen vorzuwerfen, sondern der Inszenierung an sich, die sehr repetitiv ist. Aufbauen, abbauen, im Kreis drehen. Das ist allerdings auch ein Punkt, der sie tragischerweise authentischer macht.
Der junge Theaterregisseur Valentin Werner inszeniert ein psychologisches Kammerspiel – die Anschläge in Paris machen dieses Stück zu dieser Zeit natürlich noch brisanter.
Die „Protokolle von Toulouse" wurden gestern im Werk X uraufgeführt. Weitere Vorstellungen sind am 17.11., 18.11., 20.11.,23.11., 24.11. und am 25.11. um 20 Uhr. Mehr Infos hier.