Ständig online, mit aller Welt vernetzt – und trotzdem das „Real Life“ nicht aus dem Fokus verlieren? Das schreibt sich leichter als es sich bewerkstelligen lässt. Welche Informations-Bewältigungsstrategien gibt es? Wann bleibt Zeit für Reflexion? Welche Auswirkungen hat die permanente Reizüberflutung? Werden wir bald alle am Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) leiden?
Martin Blumenau (© Lukas Beck)
Leben in einem anderen Element In den dieser Tage sehr konzentriert geführten Dialogen zum Thema Neue Medien kommt mir nur ein Stehsatz über die Lippen; und das auch nur deshalb, weil er wahr ist. Wenn mich jemand fragt, ob er/sie sich über Twitter drübertrauen soll und was das denn letztlich bringe, sag‘ ich immer: „Lässt sich so nicht sagen, probier es einfach aus.“ Diese zentrale Frage „Was bringt’s?“ ist nämlich nur individuell beantwortbar. Manche sind über die sich auftuenden Möglichkeiten als Info- oder Link-Schleuder entzückt; andere wenden sich nach kurzer Probierzeit ab, weil sie’s für Vergeudung halten, wieder andere sind von der Menge der Tweets überfordert. So wie bei der Nutzung von Twitter ist es in allen Bereichen, egal ob bei Social Networks, der Nutzung von Blogs oder den neuen heißen Apps auf dem iPhone: wer nicht für sich selber definiert, wozu und in welchem Umfang er/sie sich drauf einlässt, hat schon verloren; und soll’s lieber bleiben lassen. Man kann ja jederzeit zum Thurnher werden und das „neumodische Zeug“ komplett ablehnen. Ich halte nicht viel davon mit Strategien in die Nutzung der Neuen Medien zu gehen, es sei denn, man repräsentiert etwas Anderes als bloß sich selbst. Die Digital Natives tun das auch nicht und sie können einen verkrampften User der älteren Generation, einen Immigranten, sofort riechen. Wenn die, die mit dem aktuellen Angebot bereits aufgewachsen sind, sich von der Info-Menge überfordert fühlen, dann bremsen sie – ganz automatisch. Dass die Immigrants dafür und für viele andere Filter-Vorgänge eine Handlungs-Anleitung brauchen, finden sie bestenfalls komisch. Ein 24/7-online-Leben bringt nichts, wenn es erzwungen ist/wird/daherkommt. Weil es dann automatisch nichts als Probleme aufwirft. Und es ist dann, wenn es selbstverständlich geworden ist, jederzeit unterbrechbar. Man muss sich das in etwa so vorstellen, wie ein Leben in einem anderen Element. Die Digital Natives beherrschen die Wasser-Atmung und haben deswegen gar kein Bewusstsein für das Gejammer der Übergangsgeneration, die ständig auftauchen und nach Luft ringen muss. Wozu auch: in ein paar Jahren wird alles, was sie anstellen, Standard sein. Martin Blumenau, 49, FM4-Urgestein, seit 2000 radikal vernetzt, ab 2003 mit dem Prototyp eines Blogs http://fm4.orf.at/blumenau.
Hartmut Rosa (© Ingo Pertramer)
Lawine losgetreten Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten scheinen bis an die Verarbeitungskapazitäten des menschlichen Gehirns zu stoßen. So „normal” ihr Umgang damit auch sein mag – erstmals wirken auch die ganz Jungen überfordert. Das mag evolutionär mit unserem Sozialverhalten zu tun haben: Von Natur aus sind wir auf Kleingruppen, auf ein soziales Netz von vielleicht hundert Menschen vorbereitet. Man kann nicht permanent sein Leben mit Tausenden synchronisieren. Bei meinen Vorträgen spreche ich mit vielen Menschen quer durch alle Branchen. Ich finde es beunruhigend, wie viele Menschen nachts Panikattacken haben, weil sie offensichtlich den Takt nicht mehr reduzieren können. Das Web 2.0 hat ein massives Element der sozialen Beschleunigung mit sich gebracht. Der Takt ist höher, die Frequenz ebenso. Negativ formuliert bringt das ein Gefühl der Atemlosigkeit mit sich, positiv betrachtet bedeutet das einen höchst dynamischen Strom an Aktion und Interaktion – mit massiver Sogwirkung. Wie so oft haben wir uns von neuer Technologie bloß neue Zusatzoptionen für souveräne Nutzer erwartet, um nun festzustellen, dass diese eine Eigendynamik entwickelt haben, der wir uns nur schwer entziehen können. Da wurde eine Lawine losgetreten, die nur schwer zu bremsen ist. Das hat auch damit zu tun, dass sich viele der Aktivitäten in Social Networks als Streben um Wertschätzung lesen lassen. Es geht um unseren Status, unseren sozialen Wert, darum, wer reagiert und einen kommentiert. Neu an diesem dynamisierten Anerkennungskampf ist, dass mich als Individuum jeder inaktive Tag zurückwirft. Die Wertschätzung muss jeden Tag neu abgelesen werden. Das erzeugt natürlich Stress und das Gefühl, abgehängt zu werden, wenn ich nicht aktiv bin, eine andauernde Ruhelosigkeit. Bislang war es historisch immer so, dass Beschleunigung einen Wettbewerbsvorteil bedeutet. Das scheint erstmals umgekehrt: Es kündigt sich an, dass produktiver ist, wer weniger aktiv ist. Gegentendenzen werden jedenfalls nicht lange auf sich warten lassen. Wie immer: Schon vor 1900 führten in Paris Flaneure ihre Schildkröten spazieren – aus Protest gehen das hohe Tempo.
Meine Beobachtung: viele, die viel kommunizieren, streichen strategisch einen Kanal. Se verzichten auf einen Zeitfresser, aufs Fernsehen. Hartmut Rosa, 44, ist Professor für Soziologie an der Uni Jena. Zu seinen Spezialgebieten gehört die Zeitsoziologie, sein im Suhrkamp-Verlag erschienenes Buch ‚Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“ avancierte zum Bestseller.
Sabine Hoffmann (© Lukas Beck)
Wir erleben einen sozioökonomischen Wandel Als Social-Media-Junkie schwanke ich in Sachen 24/7 online sowohl beruflich als auch privat zwischen Begeisterung und Overflow. Genau diese zwei Aspekte will ich hier aufgreifen: der Mensch in der 24/7-online-Welt und die neue, demokratische Öffentlichkeit, die damit entsteht. Mit neuer Öffentlichkeit meine ich die Tatsache, dass jede(r) jederzeit für seine/ihre Themen und Anliegen andere Menschen mobilisieren kann. Bekannte Beispiele sind die Terroranschläge in Mumbai, die Wahlen im Iran oder auch die aktuelle Studierendenbewegung #unibrennt, um nur einige zu nennen. Staatliche Fernsehsender entscheiden nicht mehr alleine was Thema ist, sondern die Betroffenen selbst berichten live, eben 24/7. Vorsichtig merke ich an, dass das auch mit viel Verantwortung verbunden ist, da mitunter einige wenige „Meinung machen“. Nichtsdestotrotz wünsche ich mir, dass wir mündiger und couragierter für unsere Anliegen eintreten, dank der neuen Medien. Diese neue Art der Kommunikation bringt eine Demokratisierung der Kommunikation mit sich: Politik, Ausbildung, Unternehmenskommunikation aber auch -führung, Freundschaften, Geschäftsbeziehungen werden sich neu gestalten. Ohne Leichen im Keller, auf derselben Augenhöhe. Eine neue Qualität des Miteinander. Soweit so gut. Aber der Preis für diesen sozioökonomischen Wandel ist hoch! Da ist nämlich noch der einzelne Mensch, der das alles bewältigen muss. Menschen haben nicht MEHR Zeit für das „online sein“, sondern es drängt sich einfach mitten rein in Job und Privatleben und bringt es – neben dem Kick des „Am-Puls-der-Info-zu-sein“ und sich selbst zu präsentieren – mit sich, dass für das Hier und das Jetzt, die Menschen in der persönlichen Umgebung zu wenig Aufmerksamkeit bleibt. Das beginnt bei mir persönlich am Weg in die Arbeit, wenn ich auf der Straße in Twitter verstrickt die mir entgegen Kommenden fast niederrenne und endet bei Träumen, die mit #Tags versehen sind. Mein persönliches Resümee: das 24/7-Angebot nützen, aber eben nicht rund um die Uhr. Sabine Hoffmann, 35, ist Gründerin und Geschäftsführerin der Buzz Marketing Agentur Ambuzzador. Sie begleitet Unternehmen in ihrer Evolution zum Social Brand.
Gerhard W. Loub
Gegensteuern unverzichtbar 4:23 Uhr, das Handy piepst wie verrückt: Haider tot. Unglaublich. Adrenalin-Schock. In 3 Sekunden von 0 auf 100. Notebook aus Standby hochfahren. SMS. Homepage. Twitter. Blog. Der Workaholic ist in seinem Element. Und beweist seine 24/7-Einsatzfähigkeit. 24 Stunden am Tag erreichbar, 7 Tage die Woche: für so manchen eine Selbstverständlichkeit, für Workaholics ein absolutes Must. Die Gesundheit – Stichwort Burnout – bleibt da schnell auf der Strecke. Rechtzeitig gegensteuern ist unverzichtbar, Selektion die Devise. Der Trend zum Zweithandy sollte dazu führen, dass die Zweitnummer nur ein kleiner Personenkreis hat – für Notfälle und Privates (bei mir sind‘s übrigens schon drei Handys). Und: Gezielt pausieren – Urlaub in der handyfreien Zone, Workout ohne Freisprecheinrichtung, Wellness ohne Notebook. Klingt einfach, ist es aber nicht. Doch der Versuch lohnt sich. Auch für 24/7-Workaholics. Gerhard W. Loub, 37, hat die Webredaktion der ÖVP aufgebaut, arbeitet in der Webabteilung der ÖVP Bundespartei und bloggt unter www.loub.at.
Marlis Rumler (© Privat)
Emanzipation erforderlich Es geht ja in erster Linie nicht darum, für alle anderen 24/7 verfügbar zu sein, sondern um die Möglichkeit, sich rund um die Uhr bedienen zu können. Die alte Push- und Pull-Geschichte. Und wer sich pushen lässt, ist selber schuld. Wir sind nicht mehr entweder on- oder offline, sondern wir leben mit den Kommunikationsmitteln, die uns geboten werden. Wer sich da in Angstneurosen ergibt, der muss lernen, sich in seinem Kommunikationsverhalten zu emanzipieren. Die Integration der virtuellen Welt in unseren Alltag geht schleichend, aber umfassend und vor allem in beide Richtungen: Der Hype um Communities ist nichts anderes als das Eintreten des Real Life in die vormals anonymisierten Weiten des Internet. Zeit verschwenden können wir überall - ob wir nun F5 für neue Tweets hämmern oder uns fadisiert durchs Nachmittagsprogramm zappen. Marlis Rumler, 32, ist Geschäftsführerin bei uboot.com, der ersten deutschsprachigen Web-Community. Sie hämmert auch gerne mal F5 für neue lolcats.
Kommunizieren wir uns zu Tode? – So hätte der gute alte Neil Postman die Frage formuliert und tendenziell mit einem „Ja” beantwortet. Frank Schirrmacher, konservativer deutscher Publizist mit gutem Gespür für gesellschaftliche Prozesse an der Schwelle zur Mehrheitsfähigkeit, fühlt sich durch die neuen Kommunikationstechnologien gar physisch in seiner Integrität beeinträchtigt. In seinem neuen Buch „Payback“ behauptet der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht weniger als „Multitasking ist Körperverletzung“. Über die drastische Polemik der von ihm gefühlten Fremdbestimmtheit ließe sich diskutieren. In seiner Überforderung, die permanente Ausgesetztheit des allumfassenden Kommunizieren-Könnens und -Müssens in den Griff zu bekommen, ist der 50-Jährige allerdings sicher nicht allein. Sie ist auch keine ausschließliche Generationenfrage. Auch wenn sich jüngere, damit Aufgewachsene (Digital Natives) zweifelsfrei leichter, spielerischer und selbstverständlicher in einer rundum vernetzten Umwelt zu Recht finden, liegt der richtige Umgang mit den neuen Medienmöglichkeiten, die Facebook, Twitter und was noch kommen mag bieten, nicht plötzlich, gleichsam generationensprunghaft in den Genen.
Dabei sein ist alles
Wo eine prinzipielle Verweigerung nicht zur Debatte steht, verleitet die permanente Verfügbarkeit von Facebook und Twitter auf Rechner und mobiler Gerätschaft leicht zum unentwegten Kommunizieren. Antworten, reagieren, kommentieren, immer wieder checken, ob die anderen schon auf die eigenen Aktionen reagiert haben – dieser Kreislauf ist prinzipiell ein unendlicher. Er lenkt schon einmal von anderen Aktivitäten ab, mindert die Konzentration. Die Grenzen zum Suchtverhalten sind fließende.
Älteren Semestern wiederum bleibt bis dato nicht nur oft die Sinnhaftigkeit von Web 2.0 und sozialen Netzwerken ein Rätsel, sondern somit klarerweise auch die Problematik der beschriebenen Totalität komplett fremd. Wer teilnahms- und damit verständnislos wie Wolfgang Schüssel auf die von ihm einst so bezeichnete „Internet-Generation“ blickt, bleibt von ihr zwar verschont, kann auch in dieser Hinsicht bloß den Kopf schütteln.
Gar keine zeitgemäße Kommunikation ist jedenfalls, soviel steht fest, auch keine Lösung.