Wes Anderson meldet sich zurück. »Moonrise Kingdom« bietet eine farbenfrohe Palette an hinreißend verschrobenen Charakteren und chaotischen (Ersatz-)Familien.
Im pittoresken Häuschen mit dem weißen Lattenzaun sitzt jedes Haar an seinem Platz. Jede Kerbe im Fußboden ist exakt zugeschnitten, jedes Staubkorn sorgfältig platziert. Eine Kamerafahrt wird uns die Etagen des Gebäudes im Querschnitt zeigen. Das Setting verbildlicht die Quintessenz dieses Films und ebenso die aller Wes Anderson-Filme: Er baut Puppenhäuser, im figurativen wie auch im wörtlichen Sinn. In »Darjeeling Limited« (2007) war es ein Zug, in »Die Tiefseetaucher« (2004) ein Schiff. In »Moonrise Kingdom« ist es das Häuschen (letztlich aber auch die gesamte, von der Außenwelt abgeschottete Insel). Anderson füllt seine Puppenhäuser mit liebevoll gestalteten, detailliert ausgearbeiteten Figuren. Diese sind stets exzentrisch, verschroben, skurril. Selbst die Menschen, die hinter dem weißen Lattenzaun leben, entsprechen rein gar nicht dem Topos eines US-amerikanischen Familienidylls. Mutter Laura (Frances McDormand) kommuniziert per Megaphon mit ihren Kindern. Vater Walt (Bill Murray) schlendert barbäuchig durchs Wohnzimmer, bevor er betrunken Bäume fällt. Die zwölfjährige Tochter (Kara Hayward) sucht das Weite, um mit einem gleichaltrigen Pfadfinder (Jared Gilman) in der Wildnis zu leben.
Es ist die Liebesgeschichte der Kinder, die im Mittelpunkt der Handlung steht. Kernthema des Films ist jedoch ein anderes: Anderson spielt mit seinen Puppen am liebsten (Ersatz-)Familie. Nach und nach fügt er die liebenswerten Versager und seelisch vernarbten Einzelgänger, die seine Filme bevölkern, in funktionale Einheiten zusammen. Er hält sich (und sein Publikum) dabei nicht mit dem Anschein eines perfekten Familienlebens auf. Stattdessen konzentriert er sich von vornherein auf das Chaos, das unter der Oberfläche brodelt. In »Moonrise Kingdom« ist dies einerseits ein alltägliches, andererseits ein fantastisches, ein aufregend abnormes Chaos. Der Film handelt von vernachlässigten Kindern und entfremdeten Ehepartnern, erzählt aber auch von Motorrädern, die in Baumwipfeln landen; von Blitzschlägen, die überlebt und reißenden Strömen, die mühelos übersprungen werden. Nüchterne Realismen treffen auf entrückte Märchen. Anderson ist Experte darin, sogar aus der langweiligsten Routine noch ein wenig Magie zu kitzeln, noch nie waren seine Charaktere derart zerrissen zwischen Wirklichkeit und Zauber. Doch die Mischung glückt. In seinem neuesten Puppenhaus führt Wes Anderson ein humorvolles, melancholisches Märchen auf. Keines, an das man glauben könnte, aber eines, das man sich gerne wieder vorlesen lässt.