Ein Klassiker zum Wiederlesen: Victor Klemperers Aufzeichnung über die „LTI“, die Lingua Tertii Imperii, die Sprache des Dritten Reichs. Voll gescheit und voll tragischem Witz.
LSR, so allgegenwärtig diese Abkürzung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Deutschen Reich auch gewesen sein muss, so bald war sie nach dem Sieg der Alliierten wohl auch wieder vergessen. Angebracht war das Kürzel an zahllosen Häusern. Es bedeutete einen Luftschutzraum und wies somit den schnellsten Weg in die Sicherheit vor feindlichen Luftangriffen. An diese hatte man sich im Lauf der Kriegsjahre gewöhnt. So sehr, dass die bombardierte Bevölkerung, die kaum mehr an den Endsieg der nationalsozialistischen Herrenrasse glauben konnte, die Formel umdeutete. Als Witz kursierte die Auflösung „Lerne schnell Russisch!“ Wohl ein Beleg für den Galgenhumor wie für den allgemeinen Opportunismus und die Bereitschaft, sich (abermals) anzupassen. Was als Flüsterwitz einigermaßen harmlos erscheint, ist aber jedenfalls auch ein Beleg für die Bedeutung von Sprache als Mittel zum – uniformierten, technokratischen, systematischen – Zweck. Und ein Beweis für die Gewohntheit der Bevölkerung daran, formelhaft verkürzte Befehle zu empfangen.
Den eindrucksvollsten und monumentalen Beleg für die „Abkürzungsmanie der nationalsozialistischen Bewegung“ (Reinhard Müller in seinen Erläuterungen zu den von ihm neu editierten Flüsterwitzen) lieferte Victor Klemperer (1881-1960). Dieser litt in mehrfacher Hinsicht unter den Nazis; als Jude unter permanenten Anfeindungen und Verfolgung; als klassisch gebildeter Philologe unter der mit Phrasen überladenen Dumpfheit und der „Geschwollenheit des Goebbelsschen Propagandastils“, welcher sich bald selbst im Alltagssprachgebrauch der Regimegegner breit gemacht hatte. Worte, die sickerten „wie winzige Arsendosen“. Vom Propagandaminister über die gleichgeschalteten Medien ausgegeben und permanent wiederholt, war „der für alle Welt verbindliche Stil der des marktschreierischen Agitators“, die LTI „ganz darauf gerichtet, den Einzelnen um sein individuelles Wesen zu bringen“.
Klemperers Überzeugung als sprachlicher Seismograph – „Die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Werk hüllenlos offen“ – begleiten in seinen Tagebuchaufzeichnungen, wie die Vox Populi sukzessive emotional aufgeladen, die Bevölkerung aufgehetzt und auch über die gemeinsame Sprache uniformiert wurde.
Parallelen zum Sprachgebrauch der Expressionisten und Dadaisten werden ebenso bloß gelegt, wie der Umstand, dass Goebbels indirekt Schillers funktionales Credo (Sprache poetisch vorzuformen) exekutierte, in dem er für die Masse „vordachte”, vorformulierte und dieser seine mörderischen Floskeln in den Volksmund legte. Dabei spart Klemperer – manchmal durchaus fassungslos – auch nicht mit Selbstkritik: „Ich urteile wie ein Intellektueller, und Herr Goebbels rechnet mit einer betrunken gemachten Masse. Und außerdem noch mit der Angst der Gebildeten.“ Mit aller wissenschaftlich geschulten Nüchternheit demonstriert er so, wie es den Nazis gelang, die viel gepriesene Sprache der Dichter und Denker als wirksame Waffe des totalen Kriegs auf eine unbewusste Alltagsebene zu verlagern. Wie sie es schafften, Worte neu und positiv aufzuladen (etwa den Terminus „fanatisch“) und Gegner durch Details und scheinbare Nebensächlichkeiten (etwa die entwürdigend eingesetzten „ironischen Anführungszeichen“) systematisch zu verunglimpfen.
Warum Klemperers Aufzeichnungen gerade auch im Zeitalter des „Iconic Turn“ noch lesenswert sind? Zuallererst, weil das einst ausgegebene Arsen immer noch fortwirkt – in Wendungen, ethisch gesäuberten Ortsnamen und, bloß eines von vielen Beispielen, den Modenamen von einst. Vor allem aber, weil Klemperers Beobachtungen demonstrieren, wozu ein allzu unbewusster Umgang mit Sprache führen kann. Und weil sich, nicht zuletzt, die Propagandisten auch heute sehr wohl ihre Gedanken machen. In diesem Sinne gemahnt uns Klemperers Vermächtnis nicht nur Sprache, sondern auch Zeichen in unserem Alltag sensibel und auf ihre eigentliche Bedeutung hin zu deuten. LTI, die Sprache des Dritten Reichs lesen wir im 21. Jahrhundert als, wenn man so will, ultimative Stilkunde des Barbarismus.
Victor Klemperer: LTI (Lingua Tertii Imperii). Notizbuch eines Philologen. Reclam Leipzig