Solofahrt für Tom Hardy oder: Sitzt ein Mann im Auto und telefoniert. Ein Film als intensive Charakterstudie im Kurzgeschichten-Stil.
Ivan Locke (Tom Hardy) ist Vorarbeiter auf einer der größten Baustellen Englands. Am Vorabend einer historischen Fundamentlegung, der wichtigsten, die er jemals abzuwickeln hatte, lenkt Locke seinen Wagen auf die Autobahn. Anstatt nach Hause zu Frau und Kindern zu fahren, steuert er London an. Knappe eineinhalb Stunden sind es bis zur Hauptstadt, eineinhalb Stunden, die Locke am Telefon verbringen wird, um seine Ehe, seinen Job, den Bau seines Wolkenkratzers zu retten.
»No Turning Back« wirkt wie das Paradebeispiel einer filmgewordenen Kurzgeschichte. Obwohl dem Drehbuch von Steven Knight (der auch im Regiestuhl Platz nahm) keine solche zugrunde liegt, exerziert der Film den Grundstock an genreüblichen Stilkniffen mustergültig vor: Direkter Einstieg, zeitlich kompakter Plot, Repetition symbolhafter Elemente und Schlüsselphrasen, offenes Ende. Darüber hinaus erinnert »No Turning Back« an ein klassisches Drama, scheint auf den ersten Blick die aristotelischen Einheiten von Zeit, Raum und Handlung in Höchstform zu zelebrieren. Dem ist allerdings nicht so: Die Story ist in mehrere gleichwertige Handlungsstränge aufgeteilt, das bestimmende, auslösende Ereignis findet vorab statt, zu einer abschließenden Auflösung kommt es nicht (wirklich). Die Einheit des Raums allerdings …
Eineinhalb Stunden lang sehen wir Locke im Auto sitzen, die anderen Figuren (u.a. »Sherlock«-Soziopathin Ruth Wilson als Lockes Ehefrau) bekommen wir kein einziges Mal zu Gesicht. Sie existieren nur als Stimmen, die über die Freisprechanlage ertönen. Ein langweiliger Film? Keineswegs. Mit jeder Minute tauchen wir tiefer in die Seele Ivan Lockes ein, nähern uns Stück für Stück seinem Kern. Jedes dieser Puzzleteile ist für sich – in formaler wie auch inhaltlicher Sicht – faszinierend. Jedes Element des Films regt zu Deutungsversuchen an: Lockes Verhältnis zu seinem toten Vater, Auto und Autobahn als Setting (nachzuschlagen bei Foucault), der allgegenwärtige Beton als Leitmotiv. Doch auch ohne die Vielzahl an möglichen (Über-)Interpretationen ist »No Turning Back« eine fesselnde Ein-Mann-Show. Es ist spannend, wenn auch mitunter unbehaglich, diesem Ivan Locke zuzusehen. Sein Leben ist ein brennendes Haus, er selbst hat es in Brand gesteckt. Was kann er daraus retten?
»No Turning Back« ist seit 19. Juni 2014 in unseren Kinos zu sehen.