Can you feel it?

Head Orgasm, so wird das Kribbeln auch genannt, wenn einem flüsternde Stimmen im Netz das wohlige Gefühl von Nähe geben. Gestern gab es im Berghain eine Performance der Künstlerin Claire Tolan zum Phänomen.

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Erinnerst du dich an den ersten anonymen Chat, der dir so richtig unter die Haut ging? Die richtigen Worte und die Illusion von Intimität reichen aus, uns kurzzeitig ein Hochgefühl zu verschaffen, uns zu triggern. Die fiktive Unterhaltung zwischen CST, der Künstlerin Claire Tolan, und einem DJ erinnerte gestern Abend im Berghain an solche Situationen – allein vor dem Rechner, mit einer einzigen Person aus der weiten Welt in Kontakt, die dich versteht. Kann es wirklich Liebe sein?

„Can you feel the love tonight?“

Tolan setzt sich mit dem Internet-Phänomen der ASMR-Videos auseinander. Auf Youtube und diversen Foren versuchen Darsteller das angenehme Kribbeln auszulösen, das sich fast von selbst einstelle, wenn ein sanfter Ton in dein Ohr dringt, wenn ein schönes Gesicht mit Flüsterstimme und den besten Absichten zu dir spricht. ASMR-Darsteller simulieren intime Nähe, indem sie persönliche Erfahrungen und Lebensgeschichten teilen, durch Rollenspiele, oder auch bloß banale Alltagssituationen, wie die Pflege der Pflanzen oder das Auftragen von Make-up. Auch beim Geräusch von Streicheln oder Fingernägeln, die über eine Tischplatte streifen, könnten sich uns die Nackenhaare aufstellen oder wir bekommen eine Gänsehaut.

Verschiedene Leute machen verschiedene Dinge mehr oder weniger an. Oft sind es die feinfühligen Wahrnehmungen und scheinbar beiläufigen Gesten – eine kleine Bewegung, jemandes Haltung oder der Klang der Stimme. ASMR greift diese Wahrnehmungen auf und zoomt sie ganz nah heran mit Hilfe hochwertiger Bilder und binauraler Sound-Aufnahmen. Die Videos könnten gar Angstzustände, Sorgen oder Schlafstörungen mildern.

Is this pure fetish?

Wenn wir heute einen Großteil unserer Wachzeit im Netz verbringen, warum nicht auch die intimen, die erregenden Augenblicke? Wir suchen nach Gefühl im Netz. Fetische erlangen als Hypes kurzzeitig große Aufmerksamkeit, wie BDSM und Katzen-Videos. ASMR ist so ein Phänomen, das sie alle zusammen nimmt und den reinen Fetisch destilliert – die Trigger. Ein neuer Begriff musste her, ein möglichst akademischer: „Autonomous sensory meridian response“ soll die fast automatischen, Orgasmus-ähnlichen Reaktionen bezeichnen, den „head orgasm“ oder die „head tingles“.

Ob ASMR-Videos wirklich so beliebt sind, weil sie all die User so berühren, ist zu bezweifeln. Wahrscheinlicher ist, dass reine Neugier und der Big-Brother-Effekt Millionen Clicks verursachen. Claire Tolan gibt auf das Phänomen eine interessantere Perspektiven als all die Videos selbst, weil sie deren Fetisch-Charakter und die Künstlichkeit der Situation in ihren Visuals ironisch verarbeitet. Den Avatar-haften ASMR-Darstellern stellt sie in ihrer Arbeit „Always there for you“ eine realistische, alltägliche Skype-Unterhaltung gegenüber, die – wie wir wissen – an perfekter Simulation noch scheitert: „Sorry about the weird background noise!“

What about privace?

Privatheit und Intimität im Netz – geht das überhaupt noch? ASMR scheint die Angst vorm gläsernen Ich positiv umdeuten zu wollen. Scheinbar ganz ohne hier private Informationen preiszugeben – immerhin handelt es sich ja um Rollenspiele – werden intimste Momente mit der ganzen Welt geteilt. Aber ist es nicht gruselig, wenn Youtube dir Videos vorschlägt, in denen eine sanft-flüsternde, niedliche Brünette mit Federn spielt, weil die Vorstellung dich so kitzelt?

Dies erzeugt Horrorvorstellungen eines Post-Post-Kapitalismus sowie sozialer Vereinsamung im Netz. Performances von Tolan, wie die gestrige „Ascending Affirmations“, verknüpfen die infantilen Spiele mit digitaler Massenüberwachung. Nachdem Tolan jeden einzelnen Besucher im Berghain persönlich begrüßt hatte, gab sie uns einen Vorgeschmack davon, Teil der Big Data zu sein. Kleidung der Besucher, Stimmung und Bekanntsein oder Unbekanntsein mit der Künstlerin speisten Diagramme, die direkt live in den Raum übertragen wurden.

Auch de Laptop-Musikerin Holly Herndon griff letzte Nacht im Berghain in ihrer Visual Show dieses Phänomen und seine Dystopien auf: „Welcome. So happy to be here with you.“ „Q: What if we lose? a: we don’t lose. Q: do you use encryption? a: no.“ „but they underestimated Underground resistance.“ „Buy more nothing“. Dies sind fiktiv umgeschriebene Samples von Inhalten, die Holly Herndon aus den Nachrichten, Kommentaren und Profilen der Nutzer generiert hat, die am Facebook-Event teilgenommen hatten.

So what?

ASMR lotet spielerisch die Grenzen unserer Virtual Reality aus und erprobt die Simulation, zwar im Spiel, doch nicht im offensichtlich virtuellen Game-Charakter, sondern im Anschein des Alltäglichen. Es kann aber nur ein trauriger Ersatz sein, seine körperlichen Trigger durch unbekannte Rollendarsteller im Netz zu erfühlen. Oder aber wir sehen darin die Distopie einer Post-Privacy-Gesellschaft, in der wir Privates nicht nur virtuell preisgeben, sondern auch befriedigen.

Claire Tolan im Berghain Berlin zur Polymorphism – Veranstaltungsreihe der CTM Berlin. Sie ist mit ihrer Show „Your’re Worth It“ jeden Dienstag, um 19 Uhr, auf Berlin Community Radio zu hören, „Listen through headphones“.

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