Danke für nichts, 2020! – Ein Dossier aus alternativen Jahresrückblicken

Nach langen Monaten des nicht aufhörenden Stroms an immer schrecklicher werdenden Nachrichten, fragen auch wir uns: Was bleibt nach unzähligen Artikeln, Breaking News, Livestreams, Pressekonferenzen und sogar dem einen oder anderen Buch noch zu sagen? Dann haben wir unsere Redaktion und andere Kulturschaffende gebeten, uns an ihrem Blick auf das Jahr 2020 teilhaben zu lassen – und zwar an einem, der sich ausmalt, wie die letzten Monate aussehen hätten können. »Was hat für dich ganz persönlich 2020 durch die Erschwernisse des Jahres nicht stattgefunden?« – das war der Impuls, den wir allen AutorInnnen mitgegeben haben. Von der großen Revolution im Klassenkampf bis hin zum ersten eigenen DJ-Set war vieles dabei. Eine Einladung zu einer alternativen Realität des Jahres 2020.

© Erli Grünzweil

»When the world is about to end… take my hand wash your hands.«

Aygyul

Ein Jahr im »Musikbunker« —Zu Beginn jedes Jahres setze ich mich hin und notiere meine Ziele für das kommende Jahr. Der Plan für 2020 war vollgepackt und aufregend: Reisen in neue Länder, Mini-Konzerttouren, in der Wiener Musikszene durchstarten, Youtube-Vlogs zu meinen Reisen, auf Twitch streamen, Musikvideodrehs und die Veröffentlichung meines Debütalbums.

Im Februar veröffentlichte ich eine meiner Hauptsingles, »Take My Hand«, als Vorgeschmack auf mein bevorstehendes gleichnamiges Album. Die Hook dieses Liedes »When the world is about to end, take my hand«, stellte sich aufgrund der Pandemie und der damit verbundenen Sorgen und Ängste vieler Menschen bald als prophetisch heraus. Meine Songs entstehen in enger Zusammenarbeit mit der Poetin und Street-Art-Künstlerin Pati Avish. Wir sind immer sehr bedacht, worüber wir schreiben, weil wir beide davon überzeugt sind, dass alles, was wir schreiben, auch Realität wird. Wie konnten wir ahnen, dass nach diesem Release eine Pandemie auf uns zukommt? Wir versprechen jedenfalls, die Welt mit unseren Songs nicht noch mehr in Gefahr zu bringen.

2020 hat zunächst grandios und vielversprechend angefangen. Ich begann, fleißig an meinem Album zu arbeiten und wollte mehr Konzerte in meinem neuen Zuhause Wien spielen. Bis Ende März hatte ich noch eine Aufenthaltsbewilligung als Studentin. Vergangenen Herbst beschloss ich, alles auf eine Karte zu setzen und beantragte mit März zum ersten Mal einen Aufenthaltstitel als selbstständige Künstlerin und war ziemlich sicher, dass ich dieses Jahr eine Menge Konzerte spielen würde. Ich lernte neue Leute kennen und durfte Teil von großartigen Projekten wie Sofar Sounds und »Feng Sushi« sein. Es waren weitere Konzertmöglichkeiten in Aussicht und ich war zuversichtlich. Doch wenig später wurden meine Pläne auch schon durchkreuzt, denn überall auf der Welt wurden allen voran Konzerte abgesagt.

Digitales Mitsingen

Ich arbeitete also weiterhin zu Hause in meinem »Musikbunker«. Mit dem Musikstudio in meiner Wohnung in Floridsdorf darf ich mich glücklich und auch privilegiert schätzen, da ich so nicht auf andere Leute und Räumlichkeiten angewiesen bin. Es fiel mir allerdings schwer, mich zu konzentrieren, weil ich mir viele Sorgen machte, was um mich herum passierte und wie es meinen Verwandten in Russland wohl ginge. Für gewöhnlich sehe ich meine Mama alle zwei Monate im Zuge von Konzerten in meinem Heimatland. Wegen der Pandemie konnte ich sie ganze neun Monate nicht sehen, diese Zeit war daher ganz besonders schwer für mich.

Aufgrund der Informationsflut, der Nachrichten und der kollektiven Angst und Unsicherheit hörte ich bis Ende des Sommers komplett auf, an meinem Album zu arbeiten. Bis ich für ein paar Wochen nach Griechenland reiste, wo ich zum ersten Mal von der Muse geküsst wurde. Während des Lockdowns konnte ich einige Online-Konzerte und -Festivals spielen, was allerdings schlicht nicht vergleichbar ist mit echten Konzerten. Seit März 2020 hatte ich leider nicht wirklich die Chance, meine Songs unisono mit dem Publikum zu singen. Bei Online-Konzerten haben meine Fans zwar immer wieder Kommentare mit einzelnen Songzeilen geschrieben – sie haben quasi im digitalen Raum »mitgesungen« – diese konnte ich oft aber erst nach dem Stream sehen. Die Connection mit einem echten Publikum, die eigentlich eine meiner größten Inspirationen ist, fehlt. Dennoch sollten wir Online-Konzerte neu durchdenken, weil es ganz so aussieht, als würden sie uns noch länger begleiten – und als würden richtige Offline-Konzerte so bald nicht wiederkommen.

Aygyul ist eine russische Ex-Opernsängerin straight outta Floridsdorf, die mittlerweile selbst elektronische Musik in ihrem Heimstudio produziert. Sie kombiniert ihre markante Stimme mit elektronischen Beats, Live-Looping und Beatboxing. Das ergibt: eine Fusion aus Pop, Electro und diversen unkonventionellen Einflüssen.

Weiter zu: See you next year, Klassenkampf! — Nicole Schöndorfer

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