Danke für nichts, 2020! – Ein Dossier aus alternativen Jahresrückblicken

Nach langen Monaten des nicht aufhörenden Stroms an immer schrecklicher werdenden Nachrichten, fragen auch wir uns: Was bleibt nach unzähligen Artikeln, Breaking News, Livestreams, Pressekonferenzen und sogar dem einen oder anderen Buch noch zu sagen? Dann haben wir unsere Redaktion und andere Kulturschaffende gebeten, uns an ihrem Blick auf das Jahr 2020 teilhaben zu lassen – und zwar an einem, der sich ausmalt, wie die letzten Monate aussehen hätten können. »Was hat für dich ganz persönlich 2020 durch die Erschwernisse des Jahres nicht stattgefunden?« – das war der Impuls, den wir allen AutorInnnen mitgegeben haben. Von der großen Revolution im Klassenkampf bis hin zum ersten eigenen DJ-Set war vieles dabei. Eine Einladung zu einer alternativen Realität des Jahres 2020.

© Erli Grünzweil

Erika Ratcliffe for President

Erika Ratcliffe

Konkurrenzanalyse, ohne Namen zu nennen — Leider hat wegen der Pandemie mein großer Durchbruch als Comedian, Genie und Allroundtalent nicht stattgefunden. Ich gebe voll und ganz Covid-19 die Schuld dafür. Natürlich hinterfrage ich aber als reflektierter Comedian auch meine Kunst: Erzähle ich vielleicht zu viele Furzwitze? Sollte ich auch sagen, dass Juden willige Weiber wollen und nicht nur Geld? Oder soll ich sagen, dass Juden nur Geld wollen und keine Weiber? Was kam zuerst, die Weiber oder das Geld? Das Huhn oder das Ei? Der Holocaust oder die Satire? Ab wann ist man antisemitisch und ab wann ist man eine intellektuelle Satirikerin? Ich denke, sobald drei weiße Männer die gleiche Meinung haben, gilt man automatisch als kluge Kabarettistin. Somit ist man vom Antisemitismus und Rassismus befreit.

Die drei weißen Männer: Gerhard, Hans und Wilhelm sind der gleichen Meinung. Genau, das N-Wort kann ich benutzen. Gerhard sagt, das ist okay! Zurück zum Thema. Oder soll ich sexy Bilder von mir posten, um erfolgreich zu werden? Fuck, das habe ich schon versucht. Soll ich auf Tiktok tanzen und eine Wassermelone mit meinem Gesicht zerschlagen? An mangelnder Intelligenz oder an meinem Aussehen kann es nicht liegen, dass ich den großen Durchbruch dieses Jahr nicht geschafft habe. Schließlich bin ich überdurchschnittlich intelligent und ich schaue aus wie eine asiatische Sexbombe. Vielleicht sollte ich als US-amerikanische Präsidentin kandidieren, um erfolgreiche Kabarettistin in Österreich zu werden. So wie Kanye West. (Okay, Kanye West ist kein erfolgreicher österreichischer Kabarettist. Aber ihr wisst, was ich meine.) Ich sage, ich bin der Messias, der die Freiheit und den freien Willen verteidigt. Scheiß drauf. Von mir aus erzähle ich auch, dass Masken scheiße sind und man von 5G Krebs bekommt. Man muss außergewöhnlich sein. Schwarz-weiß denken.

Alle Rassisten sind scheiße und alle sind Rassisten! Stürzt das System! Welches System? Dieses System! Erfolgreiche und berühmte Menschen haben eine Meinung zu allem und provozieren gerne. Das werde ich jetzt auch machen. 2021 wird mein Jahr! Das chinesische Virus ist chinesisch und Michael Niavarani ist ein Mann! Aber ab wann weiß man eigentlich, dass man erfolgreich ist? Wissen erfolgreiche Menschen, dass sie erfolgreich sind? Wie misst man den Erfolg? Sind nicht im Endeffekt alle Menschen erfolgreich, die genug Essen und ein Dach über dem Kopf haben? Aber ein fetter Mercedes wäre schon nice. Vielleicht ist man erst erfolgreich, wenn man unnötige Dinge besitzt, die zu viel CO2 ausstoßen. Für 2021 nehme ich mir vor, einen Mercedes zu kaufen. Das ist mein Ziel. Und mit Kanye West nach Texas fahren. Keine Steuern zahlen. Zusammen retten wir die Welt.

Erika Ratcliffe ist eine aus Wien stammende Stand-up-Comedian und lebt in Berlin. Sie ist im Bezirk Donaustadt aufgewachsen, wo sie zu schimpfen gelernt hat.

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