Ein sonniges Septemberwochenende lang wurden die mit Sportevents tapezierten Plätze Innsbrucks mit klanglichem Widerstand bedacht.
Bereits zum elften Mal brachte das Heart of Noise Festival rund um Chris Koubek und Stefan Meister vergangenes Wochenende eine Vielfalt von ungewohnten Klängen in die Tiroler Alpenhauptstadt. Nach einer etwas abgespeckten Sitzversion im Vorjahr war das Motto heuer »Live Is Good«, womit gleichermaßen das ungeschonte Leben und im realen Raum dargebotene Konzerte gemeint waren. In 3G-Manier und unter dem wachenden Auge des Nordketten-Panoramas konnten dabei über 20 Acts, Künstler*innen, Performances und Installationen erlebt werden. Grund genug, um die vierstündige Reise mit dem Railjet anzutreten.
Die erste erwischte Performance war »CBM 8032 AV« von Robert Henke. Der auch als Monolake bekannte Multimediakünstler tritt in DDR-Professor-Kluft auf die Bühne und spielt auf mehreren Commodore-PCs aus den 80er-Jahren ein audiovisuelles Feuerwerk ab, das den Grundtenor für die folgenden Festivaltage vorgibt und dabei die Messlatte an die Decke der Kongresshalle schießt. Zwar sei er einigen technischen Ausfällen begegnet, im Publikum merkt man davon allerdings wenig. Zumindest bis auf die stillen Credits, bei denen Henke das Publikum wissen lässt, dass eigentlich etwas zu hören sein sollte. Der Stimmung taten diese Schwierigkeiten beidseitig keinen Abbruch – auch Henke selbst feierte seine Grooves, im Bürohocker sitzend.
Memorial für Peter Rehberg
Während frühere und mittlerweile mehrheitlich in die Hauptstadt verzogene Locals vor den Türen lamentieren, dass in der »scheiß Sportstadt« (Sub-)Kulturen immer weniger Platz zugestanden wird, vollführen anschließend drinnen NO1, das 2020 gegründete Audio-Video-Technik-Kollektiv um Peter Kutin, eine Show mit rotierenden Lautsprechern, bei der die ersten Reihen aus versicherungstechnischen Gründen eher gemieden werden sollten. Macht nichts. Die Artists arbeiten beim FOH-Desk, was optisch zwar weniger verständlich ist als das Stück selbst, allerdings erhöht sich das Sicherheitsgefühl dort signifikant.
Mit intelligenten Noise-Rock-Kompositionen von Radian und getragenem Drone von François J. Bonnet (Kassel Jaeger) und Stephen O’Malley (Sunn O)))) geht der erste Abend zu Ende. Letztere spielen ihre Show mit beleuchtetem Porträt von Peter »Pita« Rehberg, dem kürzlich an einem Herzinfarkt verstorbenen Label-Head von Editions Mego, auf dem Pult. Bonnet und O’Malley veröffentlichten nicht nur miteinander auf dessen Label, O’Malley und Rehberg spielten und komponierten als KTL auch gemeinsam. Der Geist Rehbergs scheint generell über dem Festival zu wachen, schließlich führt an seinem Label auch kein Weg vorbei, wenn man sich für verschiedenste Spielarten von Noise interessiert. Kmru, der im Hofgarten Pavillon performte und ebenfalls auf »Emego« releaste, war kaum ohne Pita-Tasche zu sehen.
Tag zwei beginnt wie der Vorabend eher locker gefüllt. Überall halten sich Besucher*innenströme in Grenzen, was die situationsbedingten Abläufe einigermaßen angenehm gestaltet. Laut Veranstalter Chris Koubek funktioniert das Heart of Noise seit Jahren mit einem eingefleischten Stammpublikum, internationales Publikum brach laut Koubek fast gänzlich weg. Der Bahnstreik in Deutschland – dem an dieser Stelle solidarisch zur Seite gestanden wird, was aus dem Railjet leichtfällt – erschwerte die letzten Vorbereitungstage zusätzlich. Maria Spivak reiste hingegen per Luftweg in den Pavillon im Hofgarten an. Nämlich aus dem zypriotischen Gebiet der scheinbaren Dauerkrise. Die letzten zwei Jahre hatte sie kaum Auftritte, dafür verkaufte sich ihr Debütalbum umso schneller und auch das nachgeschossene Tape im Juni diesen Jahres war innerhalb kürzester Zeit vergriffen. Mit einer theoretisch betanzbaren Performance bereitete sie auf die Kongresshalle vor. Beide Locations glänzten übrigens mit hervorragender Klang-, Projektions- und Lichtqualität.
Nappen bis die Tram kommt
Die darauffolgende Performance von Lukas Moritz Wegscheider, der das diesjährige Festival-Album produzierte, lotete dann erstmals deutlich spürbar das aus, was Noise abgesehen von musikalischer Ästhetik spannend macht. Während der Innsbrucker Local Hero testet, wie weit die PA und die Wände des Dogana-Saals mitmachen, werden im Publikum die sozialen Begleiterscheinungen des Neuartigen sichtbar. Wenn sich Menschen fragend umschauen, um sich zu vergewissern, ob es vielleicht doch nicht nur ihnen zu viel wird, oder Menschentrauben synchron die Fingerspitzen zum Gehörschutz umfunktionieren, ist das eine Performance für sich. Die zeitlich gut positionierten Harsh Noise Walls von Wegscheider ließen allerdings noch genügend Leute im Saal verharren, um einen tosenden Schlussapplaus ernten zu können.
Die restlichen Performances des Abends ähnelten einander aufgrund des AV-Charakters sehr und luden das Publikum teilweise zum Schlafen ein, was entgegen dem landläufigen Verständnis an dieser Stelle allerdings keine Häme darstellt. Spätestens als Roly Porter zum Abschluss einen derart resonierenden Pegel drückt, dass es noch das längst vergessene staubige Konfetti von urzeitlichen Veranstaltungen von den Trassen bläst, ist allerdings an Schlaf nicht mehr zu denken.
Am letzten Festivaltag geht es dann noch einmal hoch hinaus – und zwar mit den Öffentlichen. Beim Tramatic Ride werden rund 80 Personen in einer Straßenbahn in die gebirgigen Outskirts von Innsbruck kutschiert, während sie der Info-Screen mit radikaler Anti-Auto-Propaganda begleitet. Visuals der Spitzenklasse. Musikalisch spielen Marja Ahti und Nica Son zwei Sets, die dem Surren der Tram wie auf den Leib geschnitten funktionieren. Die Finnin Ahti genießt dabei das sich auftuende Panorama mit einem zusehends breiter werdenden Grinsen und die stellenweise ruckelige Fahrt endet ohne Zwischenfälle mit Nica Son, die wegen einem tückischen Beschleunigungsmanöver beinahe hinfällt.
Die Überwindung des Male Gaze
Was bitter aufstößt ist, dass trotz grundsätzlich feinfühliger Programmierung der einzelnen Tage lediglich die Off-Stages jene sind, in denen die Geschlechterbalance zugunsten von Frauen kippt. Auf der »Mainstage« im Congress ist Kyoka als Teil des Duos Lena Andersson die einzige Frau. Weibliche Acts wurden mehrheitlich in den räumlich recht begrenzten Pavillon im Hofgarten gebucht. Hier gibt es in den kommenden Jahren noch einiges an Verbesserungspotenzial. Höchstwahrscheinlich würde es dem Festival sogar guttun, immerhin lieferte auch eine Künstlerin die intensivste und damit beeindruckendste Performance ab – und zwar genau durch die Thematisierung des weiblichen Lebens und des ständigen, traumatisierenden Male Gaze.
Was Zoe Villerd selbst »feral feminist gore ASMR« nennt ist auf der Bühne vielmehr eine kollektive Traumabewältigung, bei der die Protagonistin sexuelle Missbrauchserfahrungen anklangt. Das Projekt Ronce soll entweder eine Katharsis oder extremes Unbehagen zur Folge haben, was vollumfänglich gelingt. Villerds stechender Blick schneidet dabei die eingenebelte Luft des Pavillons, ob mit oder ohne Augenschleier. Lachend, hustend, schreiend und kauernd bahnt sich die Französin ihren Weg durch das Publikum, während nach und nach hauptsächlich Männer die Szenerie verlassen. Die Spannung verbleibt dabei wohl nicht zuletzt deshalb permanent auf einem nahezu beklemmenden Level, weil die Show eine willkommene Abwechslung zu dem teils obszönen Laptop-Gestarre mancher Acts darstellt. »Live Is Good« – zu viele Screens eher weniger.
Das Heart of Noise Festival 2021 fand von 3. bis 5. September in Innsbruck statt.