Nicht nur im Norden Europas wurde in den letzten Jahren hervorragender Pop gemacht – auch Belgien. War der Betriff "Belpop" in den 90ern noch relativ umsonst, so ist er jetzt mit einer spannenden Szene und neuen Band-Generation mehr als angebracht. Das Waves Vienna hat ab Oktober einige davon zu Gast.
Amatorski: Jazz-Pop Atmosphäre
Von wegen Amateure, dieses Trio gehört definitiv zu Belgiens Superlative in Sachen atmosphärischem Pop und Chillwave. Mit der Single "Come Home" schleicht sich 2010 eine Single in die heimischen und niederländischen Indie-Charts, die zwischen Kontrabass, harmonisch gezupften Akkorden und Inne Eysermans schwelgender Stimme noch am ehesten am Sixites Pop kratzt. Das zweite Album "TBC" bedient sich einer anderen Varieté und bestätigt Amatorskis Faible für abstraktere Soundstrukturen: Der Kontrabass bleibt, mal schleichen sich sanfte Piano-Alüren zwischen Jazz-Drumming und Geigen-Arrangements. Das Resultat erinnert gleichermaßen an Daughter und Portishead wie an jazzig-arrangierten Ambient. Mit ihrem 2013 initierten Projekt "Deleting Borders" geht die Band einen Schritt weiter: Mittels interaktiv gestalteter Website sollen Fans zukünftig am Songwriting-Prozess beteiligt werden, Live gestaltet man seine Shows sowohl multimedial als auch visuell divergenter. Mit Amatorski kommen eine von Belgiens innovativsten und schönsten Soundbastler aufs Waves. Video: Come Home
Balthazar: Flirt mit Blues-Pop
Zu einer neuen Generation ambitionierter Belpop-Bands gesellte sich 2010 auch ein wahres musikalisches Hörvergnügen: "Applause" von der aus Gent stammenden Indie-Pop Band Balthazar. Die Songs darauf schlurften meist im Downtempo dahin – immer begleitet von dominanten Basslinien, die oft nur begleitet von Schlagzeug und Vocals – das gesamte Soundgerüste beschallten. Dazu gesellt sich eine sexy Soul-Stimme die singt, als hätten wir Winter. Highlight der frühen Balthazar Songs ist die Single "Fifteen Floors", mit der die Band schnell über die Landesgrenze hinaus die wohlverdiente Popularität erlangte: Das sanfte Klavier-Thema in Kombination mit Saloon-Sound der Bläser war schlicht unpackbar catchy und sympathisch. Inzwischen ist das Quintett beim zweiten Album "Rats" angekommen. Auch die Geige als Instrument ist fix in das Live-Line-Up der Band integriert. Balthazar haben sich mit ihrem Sound stark von jeglicher Konkurrenz distanziert. Es klingt abgelutscht aber ihre Art Songs zu schreiben ist schlicht einzigartig. Am ehesten kann man sich noch an Beirut orientieren. Video: I'll Stay Here
BRNS: Indie-Pop auf den nächsten zwei Stufen
Seit 2010 hört man den experimentellen Post-Indie-Rock von "Brns": Gitarrenmusik, die vor keinerlei Exotik Halt macht. Soundcollagen ziehen sich in den Intros wie Kaugummi und filtern sich zu langatmigen Instrumentaljams. Dazwischen streut man dezente Vocals zwischen Falsett und Vocoder-Bariton. An den sieben Songs ihrer beinahe-LP (aber EP) "Wounded" liebt man neben mehrstimmigen Sprechpassagen im Stile Kakkmaddafakkas und sphärischen Loops vor allem deren Hang zum Rythmuswechsel: Brns kreeiren fertige Songs – gerne auch im Indie-Pop Format – lassen ihnen aber die Zeit sich zu entfalten: In Loop-Gitarren und noisige Drum-Solos. Dabei bewegt man sich im perkussiv und elektronisch forcierten Klangfeld englischer und deutscher Vorbilder wie Alt-j, Breton, oder Sizarr. Video: Mexico
Compuphonic: House und Hedonismus
Hinter dem Elektro-Pop Projekt "Compuphonic" steckt der 1983 in Belgien geborene Produzent Maxime Firket. Er studiert Musik- sowohl theoretisch als auch in der Praxis (Cello) und kommt über Bands wie Kraftwerk, Front 242 oder Depeche Mode zum Detroit-Techno. Seit 2006 legt er auf und produziert Remixes für die Crystal Fighters und vielen heimischen Acts wie etwa dEUS oder Arsenal. Compuphonic steht für hedonistische House-Musik, großartige Vocal-Kooperationen (zuletzt mit dem amerikanischen Soul-Sänger Marques Toliver) und Inspiration aus der Klassik und dem Piano-House. Hier geht es zu seinem Soundcloud-Profil.
Milow: Pop-Export
Was dEUS in den 90ern für Belgien waren, das ist Milow heute. Und noch viel mehr: Er ist Belgiens größter Pop-Export. Seine Interpretation des im Original von 50Cent und Justin Timberlake gesungene „Ayo Technology“ gilt als einer der umsatzstärksten Songs im Jahr 2009. (Faszinierend daran: Milow hat so eine süße, brave Stimme, dass er ganz scheinheilig über versauten Sex in allen Stellungen singen kann). Dannach lief seine Karriere steil aufwärts: Während das Debütalbum davor eher floppte, zogen nach der Hit-Single selbst schwache Songs wie „You don´t know“ ruckzuck in die Charts ein. Sein letztes Album veröffentlichte der Singer-Songwriter 2011, die ausgekoppelte Single „You and me (In my Pocket) begeisterte weltweit nicht nur die Mädchenherzen. Die Musik ist poplastig und pendelt zwischen Jack Johnson und Marit Larsen. Video: Ayo Technology
Float Fall: Mann trifft Frau
Frauen und Männer Duos haben in den letzten Jahrzente die unterschiedlichsten Resultate gebracht: Garage-Rock wie bei den White Stripes, 50er Jahre Pop wie bei She & Him oder im Falle Ms Mr einen Tumblr-Glitch-Pop. Float Fall setzen ebenso auf dieses „Mann trifft Frau“-Format. Teilweise klingt das auch so als wäre das das einfachste auf der Welt. Warme Keyboard-Flächen, helle Gitarren und zwei Stimmen im Duett verflochten. Float Fall mimen den minimalistischen Dream-Pop von den englischen XX auf ihre ganz eigene Art und Weise. Schön, eigentlich. Video: Spoor 8
Flying Horseman: E-Gitarre mit dem Geigenbogen spielen
Die sechsköpfige Band namens "Flying Horseman" hauchen ihre englisch sprachigen Texte ins Mikrofon und lassen sie über ein Instrumentarium schweben- das sich wie mit Scheuklappen versehen- komplett individuell der eigenen Melodie widmet. Das lässt die Band aus Antwerpen auch näher am experimentalen Math-Rock balancieren, als man es der tiefen und versierten Stimme des Sängers zugeordnet hätte. Zwischen den oft mit Effekten vernebelten Gitarren-Loops, folgt meist nur die Bassfigur einem fixen Schema. Auch die Vocals klingen eher nach Sonic-Youth ähnlichem Sprechgesang und erheben sich teilweise in theatralische Höhen. Nicht umsonst hänger "Flying Horseman" neben einem zarten Folklüftchen eine gewisse dramaturgische Stärke an. Ihr neuestes und inzwischen drittes Album "City Same City" vereint verschachtelte Perkussion mit wunderschönen Melodien. Wer die Klangfelder eines Brian Eno oder Tu Fawning zu schätzen weiß, ist am richtigen Weg. Und dass die E-Gitarre wie bei den Daughter-Liveacts auch gerne mit dem Geigenbogen gespielt wird zeigt, dass Flying Horseman nahe am Experiment gebaut sind. Video: t.m.l.
Girls in Hawaii: Musik-Espakismus und die Rückkehr ins Business
2013: Girls in Hawaii sind zurück. Deswegen, weil sie erstens seit 2008 wieder zusammen arbeiten und zweitens ihr für September 2013 angekündigtes neues Album veröffentlichen. Die Geschichte dieser zwischen dEUS-Rock und sanften Popsongs variierenden Band beginnt kurz nach der Jahrtausendwende. In Europa erspielt man sich eine stattliche Bekanntheit, zu Hause wird man als belgische Blonde Redhead gefeiert. Die Songs haben teilweise melancholischen Charakter, die Videos und Covers orientieren sich visuell an einer naturalistischen Ästhetik. Auch für das neue Album „Everest“ wurde ein SOHN ähnliches Cover gestaltet. Video: The Spring
Oscar And The Wolf: Singer-Songwriter mit Band
2012 bekommt Pias-Nachwuchs. Die Belgier Oscar and the Wolf veröffentlichen ihre Debüt-EP "Summer Skin". Die Band verfügt über liebliche Vocals im Stile Bon Ivers und einer ebenso verwandten Liebe zur breit arrangierten Ballade. Ihr zur Melancholie und zu verträumten Klangbetten tendierender Folk basiert auf Gitarren-Songwriting, kratzt aber ebenso an Klavier,- und Geigeninputs. Ein Ben Howard klingt ähnlich, Angus Stone ebenso. Oscar And The Wolf haben dieses Singer-Songwriter Konzept aber auf die Größe einer Band ausgebaut. Ihr gleichnamiges Debütalbum "Oscar and the Wolf" erschien heuer. Klingt wie Sufjan Stevens, Bon Iver und Flying Horseman. Video: Spoor 8
dEUS: Urväter des Belpop
dEUS ist eine Band die man getrost als Belgiens Urväter der zeitgenössischen Musik bezeichnen kann. Die Band gründet sich 1989, klang teilweise auch immer nach dem Sound dieser Zeit (Alternative-Rock, Punk), irgendwie aber auch immer anders. Die Musiker vereinten Elemente des Neo-Folks mit progressivem Rock bei gelegentlichen Noise Einflüssen. Ebenfalls Markenzeichen von dEUS: Die teilweise schrill und daneben eingespielte Violine. Frontman Tom Barman war übrigens nie „nur“ mit der Band beschäftigt: 2006 ruft er das 01110 Festival ins Leben – das wohl größte Festival für Belgiens Bands aller Zeit. Aus dEUS bildeten sich in den 90er Jahren weiter Bands: Der Schlagzeuger war Mitglied der Band Soulwax und der frühere Bassist gründete die heute als Projekt existierende Band Zita Swoon. Video: Little Arithmetics
Triggerfinger: Mit Cover zum Hype
Sänger Ruben Block trägt Haar und Bart bereits vollständig weiß: Unter anderem ein Beweis dafür, dass das Trio aus Antwerpen keine Newcomer mehr sind. Der Grundstein der Desert-Rock Band wurde in den späten 90er Jahren – genau 1998 – gelegt. Der internationale Durchbruch gelang vor einigen Jahren – ironischerweise mit keinem eigenen Song: 2012 covern Triggerfinger in einer holländischen Radio-Show das im Original von der Schwedin Lykke Li gesungenen „I Follow Rivers“: Und das – obwohl die drei Männer ansonsten zum klassischen Rock-Sound tendieren – im akustisch gehaltenen Format. Der Drumbeat wird spartanisch via iPhone eingespielt, Sänger Ruben pfeift sanft zur Melodie während hinten das Kaminfeuer flackert. Bei all dem romantischen Hype darf man nicht vergessen, dass der Sound der Band eigentlich viel rauer ist – irgendwo zwischen den Foo Fighters und Wolfmother. Video: I Follow Rivers
Im Gegensatz zu Klein-Staaten wie Belgien oder auch Österreich wirkt England wie ein gigantischer Musikkontinent. England als Popnation hat geprägt, entwickelt und festgelegt, was davor schlicht und einfach nicht existiert hat. Britpop ist entsprechend bekannter als Belpop. Das Waves Vienna holt heuer genau diesen Sound nach Wien.
Antwerpen, Brüssel und Gent: Hotspots
Das was für Großbritannien die Beatles waren, das ist für Belgien dEUS: Eine Anfang der 90er Jahre in Antwerpen gegründete Experimental-Rock Band rund um Frontman Tom Barman. Ein englischer Journalist hat einmal über sie geschrieben, wären sie aus England, dann wären sie heute noch weltberühmt. Belgien scheint nah genug am europäischen Haupt-Pop-Verstärker England zu sein, um regelmäßig wahrgenommen zu werden, aber doch zu weit weg, um es ganz nach oben zu schaffen. Aus dEUS entwickeln sich im Laufe der Jahre weitere Formationen wie die Alternative-Dance Gruppe Soulwax (heute 2Many DJs) oder das Großprojekt Zita Swoon. Der Erfolg von dEUS im Jahr 1994 mit ihrem Album "Worst Case Scenario" inspirierte viele heimische Gruppen der unterschiedlichsten Genres wie Girls in Hawaii (Indie-Pop), The Experimental Tropic Blues Band (Rock) Hooverphonic (Trip-Hop), das Pop, Starflam (Dub) oder K´s Choice zu ihrer Musik.
Zwiegespalten
Seit Mitte der 90er zeichnet sich eine neue Generation ab die mit ambitionierten und teils mutigen Alben ein breites Publikum in Europa finden. Gerade wenn man sich die Veröffentlichungen der letzten Jahre ansieht, fällt auf, dass Belgien nicht nur in Bezug auf die drei Landessprachen, Kulturen und somit der Medienlandschaft ein gespaltenes Land ist: Es gibt Pop-Acts, die mit einzelnen Singles international durchgestartet sind: Milow mit "Ayo Technology", Stormae mit "Alors on danse" oder "Papaoutai", Gotye mit "Somebody that i used to know", Selah Sue mit "Raggamuffin" und Triggerfinger mit einem Cover des Lykke Li Erfolgmodelles "I follow Rivers".
Die alternative Szene bekommt im Vergleich weniger Rampenlicht, hat aber eine längere Halbwertszeit. 2005 aufwerts prägen plötzlich Bands wie Black Box Revelation, Flying Horseman, Compuphonic, Balthazar, Soldout und ab 2010 dann Oscar and the Wolf, Brns und Amatorski den heimischen Sound: Alben wie beispielsweise "Applause" von Balthazar oder "TBC" von Amatroski sind unpackbar gute und einzigartige Platten.
Andrerseits klingt auch noch der große Jaques Brel nach, vor allem im wallonischen, also französisch-sprachigen Teil des Landes. Junge Chansoniers gab es zwar schon mal mehr, das Gener scheint aber nicht tot zu kriegen.
Wie klingt Belgien?
Hat Belgien einen Sound? So wie Britpop oder man ihn gerne der isländischen Musikszene zuschreibt? Wenn, dann findet man dort auffallend viele Bands mit einem Faible zu Ambiente, sphärischen Klängen und breit gejammten Instrumentalfeldern: Man hört in vielen Bands wie Amatorski, Brns, oder Oscar and the Wolf den Dream-Pop der Cocteau Twins und die noisig-verschwommenen Gitarrenfelder von Daughter. Aber auch in Bezug auf Artwork und Videos orientieren sich viele Gruppen an einer naturalistischen Ästhetik. Wir hören nach Belgien. Wir hören nicht mehr weg.
Das Waves hat heuer mehrere belgische Bands zu Gast: In unserer Bilderstrecke haben wir einige davon portraitiert. Das zweit Gastland heißt Belgien und ist bestimmt auch ganz, ganz toll. Zum Waves Line-Up geht es hier.