Marie Kreutzers »Der Boden unter den Füßen« war nicht nur der österreichische Beitrag im Wettbewerb der Berlinale 2019, er eröffnet auch die diesjährige Diagonale. Im Interview mit The Gap verrät die Filmemacherin ihren Zugang zu diesem Film und erzählt von Politik, Perfektionismus und aktuellen Plänen.
Lola (Valerie Pachner) ist Unternehmensberaterin. Sie ist auch: jung, adrett gekleidet und erfolgshungrig. In ihrem Büro steht ein Fitnessgerät, damit sie selbst bei »Forty-Eight«-Einsätzen (48-Stunden-Schichten ohne Schlaf) Sport machen kann – denn: Zeit für Selbstoptimierung muss immer vorhanden sein. Als ihre Schwester Conny (Pia Hierzegger) ihre Hilfe braucht, gerät Lolas Leben zunehmend aus den Fugen.
Wie sind Sie zum Thema des Films gekommen und welche Herausforderungen gab es für Sie bei der Arbeit an diesem Projekt?
marie kreutzer: Meine Tante war schizophren, wie die Figur, die Pia Hierzegger in meinem Film spielt. Ich würde sagen, sie war der Ursprung des Projekts. Und eine Phase in meinen Zwanzigern, in der sie mehr von mir wollte, als ich zu geben bereit war, weil ich mit meinem Leben und meiner Arbeit beschäftigt war. Wofür ich mich schuldig gefühlt habe. Mich hat die Frage angetrieben, was die »richtigen« Prioritäten sind und ob wir den Menschen, die uns brauchen, etwas schulden. Was Egoismus ist und was Selbstschutz. Und wie viel auch die Angst davor, selbst so eine Krankheit zu bekommen, zu einer Flucht vor einem psychisch kranken Menschen führt. Die Herausforderung war bis zum Schluss, mit Lola von einer Protagonistin zu erzählen, die keine klassische Sympathieträgerin ist, sondern eine ambivalente Figur, die mit sich selbst kämpft.
Wie gelang Ihnen die Recherche in Bezug auf die Welt der Unternehmensberatung? Wie gestaltete sich der Schreibprozess?
Die Idee, Lola als Unternehmensberaterin zu erzählen, hat sicher damit zu tun, dass ich 2004 einen kurzen Dokumentarfilm über eine Unternehmensberaterin gedreht habe und die Faszination so groß war wie die Hindernisse. In die echte Arbeitswelt einer Beraterin kann man nämlich nicht hineinschauen, da sie ja mit sensiblen Daten arbeitet und alles vertraulich ist. Ich habe in der Recherche viele Erfahrungsberichte gelesen, aber mir auch die Websites großer Unternehmensberatungen angeschaut, mit welchem Wording dort um neue MitarbeiterInnen geworben wird, was man ihnen in Aussicht stellt. Die wichtigste Hilfe waren aber mehrere ehemalige BeraterInnen, die mir alle Fragen beantwortet, von sich erzählt, das Drehbuch gelesen und mit Detailnotizen versehen haben. Kein Dialog in Lolas beruflichem Umfeld ist ohne die Hilfe dieser Ex-BeraterInnen entstanden. Das hätte ich nie geschafft. Es ist ja quasi eine Fremdsprache.
Der Film verhandelt den Druck, den wir uns alle auferlegen. Oft ist Lola beim Sport zu sehen, in einer Szene sieht man den dem Radiohead-Song »Fitter Happier« entnommenen Spruch »Fitter, happier, more productive« in Lolas Büro. Sie selbst meinten in einem Interview, dass auch Ihnen dieser Perfektionsdruck nur allzu gut bekannt ist. Wieso fällt es vielen Menschen so schwer, sich diesem Perfektionszwang zu entziehen?
Wir sind schon zu lange von diesem Perfektionszwang besessen, und er wird einfach zu gut genährt. Heute auch von den sozialen Medien, in denen alle anderen uns ja pausenlos »fitter, happier« erscheinen, als wir uns selbst. Ich hab ein riesiges Problem mit dieser Masse an »Influencern«, die so pseudo-»echte Menschen« sind, nur halt rundum super. Das ist schlimmer als die klassische Werbung oder das Modemagazin, die ein erwachsener Mensch ja zumindest theoretisch abstrahieren kann. Wir sind immer mit uns selbst am strengsten, und das kann einen kaputt machen, weil ja niemand mehr den eigenen Ansprüchen gerecht werden kann. Ich hatte 2015 ein Burnout und davor, nach der Geburt meiner Tochter, eine postnatale Angststörung. Ich erzähle das ohne Scheu – ich habe auch bis jetzt nur freundliche und positive, ja sogar dankbare Reaktionen bekommen. Wenn andere bekennen, dass sie nicht alles schaffen und nicht perfekt sind, erleichtert uns das. Ich glaube, nur so können wir diesen Produktivitäts- und Perfektionswahnsinn durchbrechen: indem wir unsere Schwächen nicht verstecken. Oder noch besser: sie nicht als Schwächen sehen.
Beim Film haben Sie mitunter mit jemandem zusammengearbeitet, der für die Intimacy-Choreografie zuständig war. Was war Ihnen hierbei in Bezug auf die Sexszenen wichtig?
Die Glaubwürdigkeit. Ich habe Strategien für Sexszenen, auch wenn es wirklich weder lustig noch sexy ist, sie zu drehen. Aber beim Sex zwischen zwei Frauen war ich einfach unsicher. Ich wollte keinen Klischee-Lesbensex, und ich wollte ganz sicher nichts Voyeuristisches wie in »Blau ist eine warme Farbe«.
Weiter zu: Gleichstellung von Frauen in der Filmbranche, Stellenwert des österreichischen Films und Widerstand gegen die Regierung